Liebe, Leere, Leidenschaft

■ „Perspectives“ - 13e Festival du theatre francais in Saarbrücken

Abel liebt Abeth, und Abeth liebt Abel. Ein Tanzpaar verdoppelt dieseamour fou. Doch die beiden Ebenen von Schauspiel und Tanz mischen sich in neuartiger Weise: Das Tanzpaar als Spiegel für Sprache und Emotion (Text von Paul Claudel) agiert nicht nur parallel, sondern auch gegenläufig zur Handlung. Im Hintergrund ein leises, elektronisch produziertes Musikgrollen, abstrakt und distanziert; subtil ausgeleuchtetes Licht unterstützt die Stimmung. Die Ebenen Sprache, Musik, Theater, Licht und Tanz driften gelegentlich auseinander. Ihre Heterogenität befremdet, erzeugt eine Überkomplexität, die nur noch mehrdeutige Zeichen entstehen läßt. Doch eben dies beabsichtigt Christine Bastin und ihre Truppe (Paris), beabsichtigt wahrscheinlich jede zeitgenössische Kunst der Gegenwart. Was bleibt, ist nur eine diffuse, in Stimmungen, Emotionen, Ästhetisierungen wahrzunehmende Struktur, ein Drama - an diesem Abend in Saarbrücken -, das im Wahnsinn oder (anderntags im Stück Bless) im Alkoholdilirium mündet.

Auch die Compagnie um den gebürtigen Albaner Angelin Preljocaj präsentiert innovatives Tanztheater, neben dem Straßentheater der Schwerpunkt des diesjährigen Festivals. Die Saarbrücker Auswahl will nicht unbedingt diejenige von Avignon wiederholen, auch wenn gewisse Ähnlichkeiten (junge Gruppen, ungewöhnliche Spielorte, der experimentelle Ansatz allgemein) nicht zu verkennen sind. Auch ein Ausdrucksvokabular der Tänzer und Tänzerinnen ist wieder anzutreffen, das den von Maurice Bejart viele Jahre lang und übermächtig fast vorgegebenen abstrakt-formalistischen Rahmen zu sprengen imstande ist. Die strenge Struktur wird aufgebrochen durch Dissonanzen, Brüche und rätselhafte Irritationen, durch überdrehte oder verzerrte Sprung- und Drehbewegungen, intensives Körpertheater, das Festbeißen oder dauernde Wiederholen einer Bewegung wie unter Zwang. Auch hier sind künstliche Posen, klassische Tanzfiguren oder reinweiße Kleidchen und Höschen nicht mehr zu sehen.

Strawinskys Noces etwa werden in der Choreographie des jetzt in Paris lebenden Albaners, der dort seine Wahlheimat gefunden hat, zu einem brutalen und „barbarischen Beerdigungsritual“ (Preljocaj) umfunktioniert. Fünf Paare, die Männer in weißem Hemd mit Krawatte und schwarzer Hose, die Frauen in kurzen Samtkostümen, streicheln, schlagen und bekämpfen sich immer heftiger in einem rasenden und wirbelnd -furiosen Geschechterkampf ohne Sieger. Lebensgroße Puppen im weißen Hochzeitsgewand werden durch die Luft geschleudert, mißhandelt, bis schließlich die „vereinbarte Vergewaltigung“ vollzogen wird. Im „Trait d'union“ dürfen sich darüberhinaus zwei Männer, gekleidet wie von Armani oder Ives Saint Laurent, akrobatisch-sportlich messen und lieben: Ihre Sehnsucht, Brutalität und Zärtlichkeit findet auch in dieser „Einsamkeit der Baumwollfelder“ keinen anderen Ausdruck.

Spektakulär vor allem wegen des ungewöhnlichen Aufführungsortes auch das Stück Liqueurs de chair der gleichen Gruppe in der stillgelegten Gasgebläsehalle des Völklinger Eisenhüttenwerks. Ein Narziß, muskelbleckend und in sich gekehrt, wird von zwei filigranen Tänzerinnen „geöffnet“. Sie küssen und streicheln seinen alabasternen Leib, Nebelschwaden ziehen auf. Die anschließende Grablegung Christi wird von einer hämmernden Maschinenmusik abgelöst, in welcher sich wieder das (vergebliche) Spiel von Liebe und Begehren, Verführung, Kampf und Aggressivität der Geschlechter gegeneinander abspielt.

Geschlossene Gesellschaften also, in denen es brodelt und zwischt, explodiert und verbrennt, ausbrennt, erlöscht, so der Gesamteindruck des diesjährigen Festivals. Nachdem letztes Jahr noch spektakulär und provokativ alle Revolutionen und Mystifikationen einer „Befreiung“ (Emanzipation?) zu Grabe getragen worden sind, zieht man sich dieses Jahr mehr auf das Du, die hermetische Gruppe oder die erotische Selbstzerfleischung zurück. Gewalt und Obsession hat das Tanztheater in allen seinen Produktionen vorgestellt. Das Sprechtheater entdeckt weiterhin und darüberhinaus Spleens, Ticks und Absurditäten des Alltags.

Grand Magasin, ebenfalls aus Paris, etwa präsentieren eine satirische „Krimi-Amateur-Oper“ über „Lärm“ (Tout sur le bruit). Vier Schauspieler und ein britischer Bobby als Musikspezialist (er produziert wie bei einem Hörspiel Hintergrundgeräusche auf allerlei seltsamen Gebrauchsgegenständen) untersuchen mit minutiöser Genauigkeit einen Kriminalfall, starten eine „Nachforschung über die Nachforschung“ („L'enquete d'une enquete“) - „Wir sind Harry Dickson, der Superdetektiv“, singen sie vierstimmig a capella und manchmal mit Fugato-Einsätzen. Sie verlieren sich jedoch in allerlei Absurditäten und Unverständlichkeiten, singen immer wieder Arien ohne Musikbegleitung im „Volkston“, unterliegen nicht selten therapiewürdigen Zwängen, etwa beim Zählen, und beißen sich schließlich an der „Leere“ fest, die in einem Perserteppich (zusammengerollt) oder in einer chinesischen Vase zu finden sein soll.

Ein Lehrstück fast im Sinne Brechts (Sophismes et petites Sophies) bringt die Gruppe Le Biscuit qui craque aus Marseille. Auch in diesem Musiktheater, am ehesten noch mit Kagels frühen Versuchen zu vergleichen, werden die Grenzen zur Lächerlichkeit und grotesken Satire bewußt überschritten.

Kommunikation und Kommunikationslosigkeit sei eines der Hauptthemen dieses Festivals, erläutert sein Leiter (seit vier Jahren) Marc Adam. Vom „Ende der Utopien“ sprechen Generik Vapeur und beschwören neue „Symbole“ (Le Mur, la Porte de Brandenbourg, le Reveil de l'Holocauste), damit Desillusionierung und allgemeine Entzauberung wenigstens in der Kunst noch ein Korrektiv finden können. Der zynische Abgesang auf la Grande Revolution und alle weltanschaulichen Ismen folgt in Frankreich anscheinend immer noch den Fußspuren Nietzsches: Ästhetisierung, Stilisierung, die schönen Oberflächen und Formen sowie das Gefühl für Körper und emotionale Kraft (passion) werden in dieser Zeit der „Völle und Leere“ weiterhin gesucht.

Reinhold Urmetzer