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Spielregeln aus Frankreich

■ Von Alexander Smoltczyk

Das Verglühen eines Sternes hinterläßt nicht nur Leere, sondern außerdem ein schwarzes Loch, dessen Anziehungskraft die der Materie bei weitem übertrifft. Bei roten Sternen ist dies nicht anders, und so ist es nicht verwunderlich, daß in den Tagen nach dem 9.November in Paris das Projekt einer Zeitschrift entstand, die das schwarze Loch des Postkommunismus erkunden sollte: 'La Regle du Jeu‘. „Spielregel“, weil der neuentstandene Raum nicht mit alten, noch mit schnellerdachten neuen Gesetzen ausgemessen werden könnte.

Herausgeber ist Bernard-Henri Levy, der sich schon Mitte der siebziger Jahre vom prometheischen Projekt Sozialismus verabschiedet hat und nun nach allerlei Irrfahrten in der antikommunistischen Internationale, nach gewonnener Schlacht in die friedlichen Welten des Diskurses zurückkehren will. 'La Regle du Jeu‘ soll, so das Editorial der ersten (Mai -)Nummer, ein Forum für Schriftsteller sein - für Intellektuelle, die weder „engage“, also unfrei, noch „d'egage“, also weltfern sind, sondern die, wie Carlos Fuentes es in einem Interview ausdrückt, der „romanesken Mannigfaltigkeit verpflichtet sind. Die einzige Spielregel auf dieser Suche nach neuen Regeln: die Ablehnung jenes identitären Impulses, der als Unkraut nicht nur in der Trümmerlandschaft Osteuropas wuchert, sondern, so das Editorial, als Demarkationslinie in jedem Land Europas aufzufinden ist: „auf der einen Seite ein nationalistisches Europa, identitär, repressiv, populistisch; auf der anderen ein offenes Europa, demokratisch, kosmopolitisch. Die Wahl ist klar. (...) Es gilt den Kampf aufzunehmen.“

Als Chefredakteur suchte sich Levy Guy Scorpetta, bereits Herausgeber einer Kunstzeitschrift und als Essayist der schönen Künste sehr „en vogue“ in Paris. Das Herausgeberkomitee klingt - bescheiden gesagt vielversprechend. Neben Fuentes werden unter anderen genannt Salman Rushdie, Dei Dao, Vargas Llosa, Fernando Savater, György Konrad, Ivan Klima und Tadeusz Kantor. Das klingt sehr nach „Mitteleuropa“, zumal die arabische Welt, Afrika und Japan gar nicht, die USA kaum vertreten sind. Die Lektüre des ersten Heftes ergibt ein etwas anderes Bild: mit 'La Regle du Jeu‘ soll vor allem ein latinisches Gegengewicht zur deutschen Hegemonie im kulturellen Mitteleuropa geschaffen werden.

Das Heft beginnt - kühn und konsequent - mit einer konkreten Negation des emphatischen Romanbegriffs von Fuentes: mit jenen Gespenstergeschichten, die jetzt in Mittel- und Osteuropa wuchern und über die Bernard-Henri Levy in Form von Reisenotizen Bericht erstattet. Nachdem sich BHLs Wunsch, Botschafter in Prag oder Warschau zu werden, trotz mehrmaligem Antichambrierens bei Hofe nicht erfüllt hat, wurde der Literat vom Außenministerium mit einer Osteuropatour getröstet. Ein Überflieger mehr im gesättigten Luftraum des Ostens? Levy verzichtet dankenswerterweise auf Brillanz und zeigt sich als redlicher Beobachter. So muß er feststellen, daß die so lang ersehnte Befreiung vom totalitären Joch nicht die Vernunft erwachen ließ, sondern eine Unzahl von Geschichten: „Inszenierung einer Repression, durch die vergessen gemacht werden soll, wie oft sie angenehm und weich war. Lügen. Auslassungen. Methodische Fabulierungen a la Timisoara“. Politischer Aberglaube, Gerüchte über Verschwörungen, Verteuflungen als bräuchte das Volk Opium gegen die Phantomschmerzen des Postkommunismus. Eine „Freiheit“, die Künstler wie Tadeusz Kantor - in einem Gespräch mit Guy Scarpetta - schon wieder von einer neuen Mauer der Dummheit sprechen läßt.

Über das bittere Resümee der Reise („In Mitteleuropa habe ich einen Faschismus mit historischem Antlitz entdeckt“, schreibt er unter Verweis auf die bizarren Rechtfertigungen von nationalen Ansprüchen), über die Enttäuschung über den politiko-klerikalen Mystizismus der polnischen Freedomfighters kann er sich schließlich nur mit einer anderen Mystifikation hinwegtrösten, dem Habsburger Reich: „Was an der Doppelmonarchie wirklich bewundernswert war und an das die Mitteleuropäer heute vor allem sich erinnern

-, war diese andere Idee einer imperialen Staatsbürgeschaft, die alle Stämme durchzog, die Besonderheiten überdeckte, sich ihnen zufügte, ohne sie zu verneinen und dazu führte, daß sich im gesamten Gebiet, in diesem unermeßlichen Raum, der von Prag über Galizien bis nach Bosnien-Herzegovina reichte, ein Mensch nicht mehr nur Tscheche, Ungar, Slowene oder Slowake war. Sie war abstrakt, diese Identität. Ohne Geruch und Farbe... Aber sie war der Beweis, daß das Gesetz des Bodens und des Blutes nicht das letzte Wort der Kollektivitäten ist.“

Nach einer etwas geschwätzigen Hommage an den Semiotiker Roland Barthes, der vor zehn Jahren dem Pariser Autoverkehr zum Opfer fiel, wird das Thema des „Empire“ wieder aufgenommen durch einen bislang unveröffentlichten Text von Alexandre Kojeve aus dem Jahr 1945. Kojeves Skizze eines „Empire Latin“ stellt wohl das Herzstück der Nummer dar. Nicht allein, weil sein Hegel-Seminar mit Lacan, Merleau -Ponty, Sartre, Bataille die französische Nachkriegsphilosophie geprägt hat, sondern weil hier ein Gedanke in nuce vorgeführt wird, der immer wieder zwischen den Zeilen der „Regle du Jeu“ hervorscheint: die Verteidigung von Paris, als der ideellen Hauptstadt der lateinischen Welt, mit ihrem Stimmen-, Sprachen- und Gedankengewirr gegen den vereinheitlichenden Zugriff von Angelsachsen und Teutonen. Kurioserweise ist es ausgerechnet ein Hegelianer, der in strenger Dialektik diese These entwirft. Kojeve entwickelt eine Überlenbensstrategie für Frankreich gegen „die deutsche Gefahr, die nicht militärisch, sondern wirtschaftlich, also politisch ist“. Da sich der Weltgeist (sic!) angesichts der von einer einzigen Nation nicht mehr zu bewältigenden Verteidigungsanstrengungen vom Nationalstaat zum Empire hinaufgehoben habe, müßten sich Frankreich, Italien und Spanien zu einem „lateinischen Empire“ zusammenschließen, um gegen das slawisch-sowjetisch und das anglo-teutonische Reich standhalten zu können. Bindeglied des Reiches seien vor allem die gemeinsame katholische Religion und die romanische Kultur des „rechten Maßes“.

Daß diese deutlich von Maurras beeinflußte Weltsicht durchaus eine diskussionsfähige These in Frankreich ist, zeigt der kommentierende Beitrag von Alain Minc, dessen europakritische „Die große Illusion“ im vorletzten Jahr in jedem Politikerköfferchen mitreiste: „Nur eine lateinische Föderation stellt eine Antwort dar auf ein Kontinentaleuropa, das dabei ist, sich um das neue Deutschland zu bilden“, und nur der Süden sei in Zukunft ein verläßlicher Militärpartner der USA. Man darf gespannt auf das „Spiel“ sein, das mit derartigen Spielregeln vorbereitet werden soll.

Trotz einer sehr schönen Studie des Religionsphilosophen Rene Girards über Shakespeare und Joyce bleibt nach der Lektüre der Eindruck, angesichts des Herausgeberkomitees wäre mehr zu erwarten gewesen. Die Zeitschrift ist handlicher und im Layout gefälliger als 'Lettre International‘ (deren Herausgeber Antonin Liehm mit seinem Plädoyer für seinen kulturellen Marshall-Plan zu den „Regle“ -Autoren gehört), aber weniger experimentell, weniger ideensprudelnd, als man es bei einer „spielerischen“ Revue verlangen könnte. Schwarze Löcher brauchen hellere Köpfe.

Alexander Smoltczyk

'La Regle du Jeu. Litterature, Philosophie, Politique‘, erscheint dreimal im Jahr im Selbstverlag 54, rue des Saints -Peres, 75007 Paris. 284 Seiten, 88 Francs.

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