: Kollektive Verdrängung
■ Betr.: „Deutsche auf der Couch“, taz vom 2. Juni
Es kann doch wohl nicht wirklich ein Zweifel daran bestehen, daß das eigene Beteiligtsein an den Greueltaten des Nationalsozialismus, wenn auch bei vielen nur in der Form, es geduldet zu haben, in Deutschland einer kollektiven Verdrängung anheimfiel. Dierk Juelich ging in seinem Votrag der Frage nach, wie die damit zusammenhängenden Symptome an die Nachfolge-Generation, also an uns weitergegeben werden, wie es kommt, daß auf uns, den Kindern und Enkeln dieser Generation, das lastet, was die Kriegsgeneration an sich nicht wahrnehmen wollte oder konnte. Er sprach von dem Geheimnis, das in vielen Familien besteht, von dem, worüber nicht gesprochen werden kann, was aus der Öffentlichkeit der Familien - auch aus der Öffentlichkeit unseres Gemeinwesens - ausgeschlossen ist, und was gerade deshalb in den Menschen, in uns, zur Sprache kommt. Er sprach von den zahlreichen Fällen schizophrenogener Interaktion, in denen die Kinder stellvertretend für die Eltern Lebendigkeit verkörpern und den historisch bedingten Mangel an (narzißtischem) Selbsterleben der Eltern ausgleichen sollen, wodurch sie selbst wiederum an Selbständigkeit gehindert werden, letztlich selbst sprachlos werden. Dies alles sind sicherlich Vorgänge, die sich in Familien in unterschiedlicher Weise abspielen, die aber einer kollektiven Dimension deshalb nicht entbehren, da das im familiären Diskurs Ausgeschlossene eben auf das kollektive Erleben und Nicht-Verarbeiten unserer faschistischen Vergangenheit verweist. Anstelle des von Sybille Simon-Zülch ausgesprochenen Verdikts über die Psychoanalyse als „familiales Kategoriensystem“, das sich unheilvoll einpaßt in eine spezifisch deutsche Geschichte der Ausgrenzung der Psychoanalyse und obendrein Freuds Anliegen, die Psychoanalyse als eine Kulturtheorie und nicht in erster Linie als klinische Theorie zu etablieren, unterschlägt, wäre vielmehr zu fragen, welchen Ort die Psychoanalyse als die Theorie unbewußter Prozesse bei der Erklärung auch geschichtlicher Prozesse einnehmen könnte.
E. Tietel, 2800 Bremen
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