: Nachdenken in der Opposition?
Walter Momper und Christian Ströbele über die Zukunft von Rot-Grün in Berlin ■ I N T E R V I E W
taz: Herr Ströbele, die „Jahrhundertchance“, als die Sie vor über einem Jahr die rot-grüne Koalition bezeichnet haben, scheint vorüber, und Sie plädieren für einen Ausstieg der Alternativen Liste aus der Koalition. Warum sind Sie für diesen Ausstieg - ist die deutsche Einheit daran schuld?
Ströbele: Die Jahrhundertchance ist sicher verspielt, und die kommt so schnell nicht wieder. Es fehlte der Mut dazu, wirkliche Signale zu setzen. Ich war natürlich nie der Meinung, daß innerhalb von wenigen Monaten die Verhältnisse in West-Berlin revolutioniert werden. Ich bin auch nicht der Meinung, daß es die Frage ist, ob aus der Koalition ausgestiegen werden soll, sondern die Frage muß andersherum gestellt werden: Ich glaube, die Koalition existiert jetzt schon nicht mehr. Es ist nur noch die Frage, ob Rudimente, ich möchte fast sagen Ruinen dieser ursprünglich gemeinsamen Politik noch vorhanden sind, die es lohnt zu retten.
Was ist denn die Perspektive der AL, wenn sie jetzt am Wochenende beschließen sollte, auszusteigen?
Ströbele: Man muß sich darüber im klaren sein, daß in dem Augenblick, wo fest vereinbarte Teile einer Koalitionsvereinbarung enfach nicht mehr das Papier wert sind, auf dem sie stehen, daß dann die Koalition nicht mehr existent ist. Wir müssen jetzt der SPD und Walter Momper sagen: Ihr müßt uns jetzt endlich das geben, was wir vereinbart haben - nicht einmal etwas Zusätzliches - damit wir weitermachen.
Rot-Grün wichtiger denn je
Herr Momper, teilen Sie diese Einschätzung?
Momper: Nein, überhaupt nicht. Ich sehe zwar nicht die Jahrhundertchance, aber ich sehe in dieser Koalition immer noch eine große gesellschaftliche Chance. Gerade unter den Bedingungen der deutschen Einheit halte ich rot-grüne Politik für noch wichtiger als vorher.
Ströbele: Da stimmen wir vollkommen überein...
Momper: Dann müssen Sie die Chance auch wahrnehmen. Herr Ströbele, mich enttäuscht an Ihren Äußerungen, daß Sie die Möglichkeiten, die eine rot-grüne Politik haben kann und wird, maßlos überschätzt haben. Die Koalition hat in den vergangenen vierzehn Monaten doch vieles von dem umgesetzt, was sie sich vorgenommen hat, und das auch unter den schwierigen politischen und finanziellen Verhältnissen seit dem 9. November.
Ströbele: Das sehe ich alles ein. Die Punkte, über die ich mich streite, kosten aber kein Geld. Das fängt an mit dem Tarifvertrag für die Kindertagesstätten in Berlin, und das hört auf beim kommunalen Wahlrecht für Ausländer. Das kostet nur ein bißchen Mut, und man muß etwas riskieren - auch bei der eigenen Wählerschaft.
Momper: Was das Ausländerwahlrecht angeht, haben wir den Gesetzentwurf eingebracht. Unsere politische Kultur gebietet es zu warten, bis das Verfassungsgericht entschieden hat.
Ströbele: Wir wußten doch schon bei Abschluß der Koalitionsvereinbarungen, daß das BVG urteilen wird. Bei Gesamtberliner Wahlen werden wir die Situation haben, daß in Ost-Berlin Ausländer mitwählen dürfen - und das unter einer schwarz-roten Regierung, im Westen, unter Rot-Grün, nicht.
Momper: Was den Tarifvertrag angeht: Wenn er Personalschlüssel beinhaltet, das heißt eine Einschränkung des Budgetrechts des Parlaments, dann kommt er nicht in Frage. Da haben wir schlicht eine andere Auffassung davon, wer im Staat entscheidet. Wir hätten uns das Leben doch viel leichter machen können, wenn wir einem Tarifvertrag mit Personalschlüssel zugestimmt hätten.
Ströbele: Also, das sehe ich völlig anders, ich sehe das als Fortsetzung einer sozialdemokratischen Politik, wie wir sie überhaupt nicht mögen. Schon in der Weimarer Zeit waren die Sozialdemokraten aus Angst, vor den rechten Parteien ihre Staatlichkeit legitimieren zu müssen, päpstlicher als eine konservative Regierung. Unter einer CDU-Regierung hätten die ErzieherInnen mehr herausgeholt, und das finde ich unmöglich. Das Budgetrecht des Parlaments ist mit dieser Frage überhaupt nicht berührt worden. Und ich ärgere mich wirklich darüber, daß wir von der AL bis heute auf die Verwirklichung von ganz konkreten Punkten aus den Koalitionsvereinbarungen in der Ausländerpolitik warten müssen. Das war einer der Pfeiler dieser Koalition.
Momper: Also zum einen ist uns da die Gesetzgebung des Bundes übergestülpt worden, die schon ab Anfang nächsten Jahres gilt. Zum anderen haben sich die beiden Koalitionsfraktionen darauf verständigt, vier Punkte des Ausländererlasses umzusetzen.
Ströbele: Wenn Sie die Koalition retten wollen, müssen Sie endlich in diesem Bereich handeln!
Momper: Aber es ist doch absurd, das alles nur an einem Punkt aufzuhängen. Ich halte etwas anderes für ganz entscheidend: Die AL hat permanent die eigenen Erfolge verkleinert und die „Kröten“, die sie schon in den Koalitionsvereinbarungen schlucken mußte, unter dem Vergrößerungsglas betrachtet. Das produziert die permanente Unlust an der Koalition, und das haben ja auch einige aus Ihrer Partei erkannt.
Koalition kein Selbstzweck
Ströbele: Ich gebe Ihnen in einem Punkt recht: Wir haben in der AL nie realisiert, daß wir schon in den Koalitionsvereinbarungen Sachen aufgegeben haben, und es gab hinterher immer wieder Prüfaufträge. Nur - das ist der Unterschied zu Februar, zur letzten VV: jetzt geht es ans Eingemachte, jetzt werden Sachen nicht mehr umgesetzt, die wir vereinbart haben, zum Beispiel die Genehmigung des Forschungsreaktors am Hahn-Meitner-Institut.
Momper: Aber Herr Ströbele, dieses Aufzählen von Einzelheiten gibt doch nicht den Stand von vierzehn Monaten Koalition wieder. Mir kommt es noch einmal auf die Jahrhundertchance, wenigstens auf die Jahrzehntchance an. Wie sehen Sie denn die Perspektive? Mir kommt es auch darauf an, daß die gesellschaftliche Linke in Deutschland überhaupt wieder Koalitionen bilden kann. Das hat es doch seit über 70 Jahren nicht mehr gegeben. Nach Berlin war es in anderen Städten viel leichter, rot-grüne Koalitionen zu bilden. Und wenn ich an künftige Wahlen denke, auch hier in Berlin, dann liegt da doch die Jahrhundertchance für ein rot-grünes Bündnis für die ganze Stadt. Diese Chance vergeben Sie doch, wenn Sie jetzt aus der Koalition aussteigen. Dann besteht nur noch die Möglichkeit, alles den Konservativen zu überlassen, oder, was ja auch nicht sehr lustig ist, eine große Koalition zu bilden.
Ströbele: Rot-Grün ist kein Selbstzweck. es geht nicht nur darum, Rot-Schwarz zu verhindern. Mit Rot-Grün haben sich sehr viele Hoffnungen verbunden, und wenn die Leute merken, daß das auch nicht viel anders ist als vorher, dann kommt die Frustration. Rot-Grün nur dann, wenn man wirklich Signale setzt, wenn man den jungen Leuten auf der Straße zeigt, wie eine Gesellschaft der Zukunft aussehen könnte. Das ist nicht gelungen, deswegen ist jetzt der Zeitpunkt zu sagen: das war ein Experiment, so geht's nicht, beim nächsten Mal muß man es anders versuchen.
Momper: Da sind wir an einem Punkt angelangt, wo ich sagen muß, daß ich Ihnen fast nicht mehr helfen kann, weil Ihre Trennschärfe in der Politik nicht sehr entwickelt ist.
Ströbele: Dann sagen Sie mir, wo in der Deutschlandpolitik noch ein Unterschied zu den Konservativen ist.
Momper: Was heißt denn das. Für mich hat als politischer Maßstab gegolten, was die Mehrheit der Menschen in der DDR wollte. Die wollten erst die Demokratie in ihrem eigenen Land aufbauen, und sie sind aus ganz bestimmten Gründen relativ schnell davon abgekommen, die DDR als eigenständigen Staat fortführen zu wollen. Ich habe das respektiert. Solange sie Zweistaatlichkeit und die Demokratie bei sich aufbauen wollten, habe ich das respektiert und mich auch dafür eingesetzt. Es ist ja heute so, daß man den Menschen in der DDR leider wenig helfen kann, ihre eigene Identität in die deutsche Einheit einzubringen. Das hat aber nichts mit westlichen Politikern inklusive dem Bundestag zu tun...
Ströbele: Natürlich.
Momper: Nein. Die Niederlage der DDR in ihrem ökonomischen und sonstigen Wertesystem ist eben so total, daß sehr wenig davon übrigbleibt, was den Menschen in der DDR wehtut und wo ich mitleide...
Ströbele: Das hätte aber nicht sein müssen. Der Kanzler hat die doch am langen Arm verhungern lassen.
Momper: Die Kritik teile ich ja. Die habe ich immer geäußert. Trotzdem würde ich bestreiten, daß der Bundeskanzler die Entwicklung in der DDR im Kern bestimmt hat. Den politischen Kurs haben die Menschen in der DDR bestimmt. Auch die Entwicklung nach dem 2. Juli werden die DDR-Bürger im wesentlichen durch ihre mehrheitliche Entscheidung bestimmen. Die wollen doch in der Mehrheit die Währungs- und Wirtschaftsunion...
Ströbele: Weil's im Augenblick keine Alternative gibt.
Mehrheit für Groß-Berlin
Wenn die AL jetzt aus Rot-Grün aussteigt, ist es doch illusorisch zu glauben, daß bei Gesamtberliner Wahlen im Dezember oder Anfang nächsten Jahres wieder ein rot-grünes Projekt gestartet werden kann. Wie will die AL den Spagat schaffen, jetzt zu sagen, es sei alles gescheitert, die Jahrhundertchance ist vertan - und im Dezember gibt es sie dann plötzlich wieder, unter fast den gleichen Bedingungen.
Ströbele: Die realen Verhältnisse haben sich so geändert, wie es kein Mensch voraussehen konnte...
Aber das muß die AL endlich begreifen!
Ströbele: Ja, da muß neu darüber nachgedacht werden...
Auf der Oppositionsbank?
Ströbele: Ja, wenn es sein muß, auf der Oppositionsbank. Manchmal läßt sich da auch besser denken.
Das mag sein, aber die Frage ist doch, ob das Land das verträgt, daß Sie sich jetzt mal zum Denken zurückziehen.
Momper: Ja, das ist wirklich die Frage. Und ich weiß gar nicht, was Sie wollen, denn wenn man sich die Wahlergebnisse ansieht, gibt es bei Gesamtberliner Wahlen durchaus eine Mehrheit für Rot-Grün. Lohnt es sich nicht, darum zu kämpfen?
Ströbele: Doch, natürlich.
Momper: Aber doch nicht von der Oppositionsbank.
Ströbele: Aber auch nicht von einer Regierung, von der man den Eindruck hat, daß sie nur noch verwaltet und keinerlei Visionen mehr hat. Warum sollten die Leute noch Rot-Grün wählen?
Warum sollten sie dann im Dezember erneut Rot-Grün wählen?
Ströbele: Vielleicht, um die Mehrheitsverhältnisse etwas anders zu gestalten.
Wenn man Ihnen beiden zuhört, hat man ein wenig den Eindruck von einer alten Ehe - obwohl sie noch so jung ist. Herr Momper, was machen Sie, wenn die Ehe am Wochenende trotzdem bricht?
Momper: Ich finde Rot-Grün immer noch politisch richtig und hoffe, daß sich die AL auch mehrheitlich dafür ausspricht. Was zu tun ist, wenn die AL aussteigt, werden wir dann entscheiden, wenn es soweit ist.
Das Gespräch führten Kordula Doerfler und Max Thomas Mehr
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