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Das wache Gedächtnis der Gesellschaft

■ Aufarbeitung stalinistischer Verfolgung als Selbsthilfe der Opposition/Über Ausmaß der Repression überrascht/Dokumentationszentrum soll Erlebnisberichte und Fakten sammeln

Kurz nach dem Oktoberumbruch, als der Wissensdurst und die Anteilnahme der Öffentlichkeit in der DDR noch groß waren an dem, was in der Vergangenheit geschah, bildeten sich spontan aus der Bürgerbewegung heraus Initiativgruppen zur Aufarbeitung politischer Repressalien. Am Anfang war es Selbsthilfe: das eigene Schicksal in der Opposition, das der Freunde und Bekannten, politisch aktiver Menschen, die in die repressive Mühle des Systems geraten waren, mußte aufgedeckt werden, um geschehenes Unrecht wiedergutzumachen.

Dann weitete sich der Kreis der Opfer aus. Mit einem Aufruf traten das linke Dokumentationszentrum, die „Initiativgruppe Gerechtigkeit und Menschenrechte“, die „IG unrechtmäßig von den sowjetischen Militärtribunalen verurteilter DDR-Bürger“ und die unabhängige „Infostelle für Verfolgte des Stalinismus“ gemeinsam an die Öffentlichkeit, um Betroffene zu erreichen und den Zugang zu den Archiven zu fordern. Die Resonanz darauf war enorm. Innerhalb kürzester Zeit trafen 300 bis 500 Briefe bei ihnen ein. Das Ausmaß der Repressalien überraschte und machte betroffen. Es wurden nicht nur, wie zunächst angenommen, politisch aktive Menschen diskriminiert und kriminalisiert.

Schon nach 1945 brachten die Alliierten bei der fieberhaften Suche nach Kriegsverbrechern und Nazis auch viele unschuldige 15- bis 16jährige Jungen in ihre Lager. Sie wurden verdächtigt, Mitglied der faschistischen „Wehrwolf„-Organisation zu sein. Ab 48 begann die Jagd auf politisch Andersdenkende, so etwa auf SPD-Mitglieder, aber auch auf der Spionage verdächtigte deutsche Kriegsgefangene, die in den Lagern in Westeuropa und der USA waren. Nach Auflösung der Internierungslager ab 1953 wurde ein Teil von ihnen in die Gefängnisse der DDR überführt.

Die willkürliche Verhaftung und vollkommene Rechtlosigkeit unschuldiger Menschen wurde in den 50er Jahren abgelöst durch die Schauprozesse. Die kurze „Tauwetterperiode“ nach Stalins Tod war schnell beendet. Der wichtigste Verurteilungsgrund in diesen Prozessen: Spionage nach Artikel 6 der Verfassung. In den 60er Jahren wurden dann „zweifelhafte Personen“ über Nacht aus den grenznahen Gebieten entfernt, die mitunter noch Jahre später von den Sicherheitsorganen observiert wurden. In den 70er und 80er Jahren wurden die Methoden der Verfolgung differenzierter: Berufs- und Veröffentlichungsverbot, Strafversetzung in unattraktive Arbeitsbereiche, Aberkennung des Erziehungsrechts und Freigabe der Kinder zur Adoption während der Gefängnishaft. Wichtig wurde in dieser Zeit vor allem im Zusammenhang mit der „Republikflucht“ die Enteignungsproblematik.

Die Basisgruppen strebten eine Erweiterung der Rehabilitation an, so daß nicht nur durch das politische Strafrecht unschuldig Verurteilte entschädigt werden, sondern auch Menschen, die durch Behördenentscheidung und arbeitsrechtlich diskriminiert wurden. Das fand Eingang in den überarbeiteten Entwurf des Rehabilitationsgesetzes.

Doch reicht es nicht aus, nur juristisch die sozialen Folgen und psychologischen Belastungen der Repressalien zu entschädigen. In ersten Briefkontakten und Gesprächen entstanden zwischen den Mitgliedern der Initiativgruppen und den Betroffenen, ihren Familien, oft starke emotionale Bindungen. Viele von ihnen, die wiederholt von der Stasi unter Druck gesetzt und danach zum Schweigen verurteilt wurden, haben noch immer oder schon wieder Angst vor Verfolgung. Die verdrängte Erinnerung an schmerzhafte Erniedrigung wurde von neuem aufgewühlt, das Vergangene, noch nicht Bewältigte, beim Sprechen darüber noch einmal durchlebt. Oft war die Grenze der psychischen Kraft erreicht. Vielen Betroffenen ist die Rehabilitierung durch Öffentlichkeit wichtiger als der formaljuristische Akt. Ihr Wissen muß für das Gedächtnis der Gesellschaft bewahrt werden. Mehrere Gruppen gründeten deshalb das Dokumentationszentrum zur Aufarbeitung der Schicksale zu Unrecht Verfolgter, um die Erlebnisberichte und Daten über die Repressalien an einem Ort aufzubewahren und für die Forschung zur Verfügung zu stellen.

Tanja Bit

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