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Treffpunkt Tresen

■ Impressionen einer rauschenden Fußballnacht in Berlin

Die kleine Kneipe in unserer Straße verwandelt sich zur Zeit in eine brodelnde Fußballarena. Wie von einer unsichtbaren Hand geleitet, stapfen gegen 17 Uhr zwei Dutzend ausgewachsene Menschen in den separaten Billardraum. Bewaffnet mit Zigaretten und Bier, haben alle nur noch eins im Sinn: das TV-Gerät hoch droben im Regal mit seinen bunten Bildern aus Italien.

Der erste Star des langen Abends heißt weder Matthäus noch Maradona, sondern Dieter. Er allein besitzt ausreichend Fingerspitzengefühl, um die Antenne optimal einzustellen. „Dieter, Dieter!“ krächzt der Chor, doch kaum erscheinen die ersten Bilder vom Fußballstiefel, ist Dieter voll im Bild. „Weg jetzt!“ flucht die Gemeinde, und Dieter hat seinen Auftritt gehabt.

Ganz gleich, wer wie gegen wen spielt - schon bald trennen sich die Fachleute von den schnöden Mitläufern. „Seitenwechsel“, brüllt ein Unbedarfter und erntet dafür ein fassungsloses Lächeln von einem, der es besser wissen muß. Schließlich soll der Grinser den Hund des Co-Trainers eines westfälischen Bezirksligisten kennen...

Wehmütig erinnern sich viele an die eigene sportive Zeit. Damals im Schwimmbad, auf dem Schulhof oder der Bolzwiese. Immer weiter treibt sie ihre Erinnerung, bis sie von den Telekickern höchstes Profitum abverlangen. „Den Ball muß der Völler aber reinmachen“, lallt jemand, dem der Alkohol bereits ins Wort fällt. Wie Buchwald beim mißglückten Fallrückzieher hängt er auf seinem Stuhl. Wenig später ist er sanft entschlummert. Fußball im Fernsehen - das ist die Sternstunde der passiven Alleskönner, der theoretischen Filigrantechniker. Man erkennt sie sofort an ihren fahrigen Bewegungen und den naturtrüben Augen. Sie fordern von den anderen alles, geben sich selbst aber mit wenigen Glimmzügen an der Zigarette zufrieden.

Ganz anders die Expertenfraktion. Den Kopf lässig in den Nacken zurückgeworfen, äußern sie sich philosophisch zu Fragen wie Abseits und Kontertaktik. Daß sie bereits ein Schwindelgefühl befällt, wenn sie ein Rundschreiben lesen müssen, verschweigen sie vorsorglich. Aber wen juckt das an diesem Abend?

„Was kümmert mich Frau und Kind, Hauptsache die BRD gewinnt“, säuselt einer und lobt das tolle „Wir-Gefühl“, das der Billardraum aushalten muß. Nach den ersten 90 Minuten des Abends trifft man sich zum Siegestaumel wieder am Tresen. Der gestreßte Wirt nutzt seine Chance eiskalt und räumt die ausgehöhlten Bierflaschen und abgenagten Kippen beiseite. Er weiß: Nach dem Spiel ist vor dem Spiel.

Jürgen Schulz

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