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Die ausgehungerten Heuschrecken von Verona

Belgien gewinnt durch rasantes Konterspiel mit 3:1 gegen Uruguay und qualifiziert sich für das Achtelfinale Ein 24jähriger, den sie den „Patron“ nennen, bekommt von Trainer Guy Thys ein Sonderlob: „Scifo war der Beste“  ■  Aus Verona Matti Lieske

Enzo Francescoli hatte den Zuschauern ein „erhebendes Schauspiel“ versprochen, denn beide Teams, so glaubte er, würden „mit offenem Visier“ spielen. So war es dann auch, nur wohl etwas anders, als sich das der uruguayische Mannschaftskapitän vorher vorgestellt hatte.

Das Unheil Uruguays war schon in den allerersten Minuten abzusehen. Francescoli begann meisterlich, reihte ein exzellentes Dribbling an das andere, doch er fand keine Abnehmer für seine klugen Ideen. Der flinke Ruben Sosa, dem der verschossene Elfmeter gegen Spanien noch in den Schuhen steckte, kam kaum an den Ball, Ruben Paz fehlten Spielverständnis und Präzision und der 34jährige Antonio Alzamendi auf der rechten Seite war ein Totalausfall, der die besten Zuspiele verplemperte.

Hinzu kam eine eklatante geistige und körperliche Langsamkeit, und wenn Alzamendi, Paz oder Perdomo versuchten, sich der belgischen Abseitsfalle zu entschleppen, war das schon fast Kabarett.

Gleichzeitig wurde rasch deutlich, daß die Südamerikaner den blitzschnellen Kontern ihrer Gegner völlig hilflos ausgeliefert waren. Die Belgier zogen sich weit in die eigene Abwehr zurück, wenn sie aber in Ballbesitz kamen, sausten sie allesamt, dirigiert vom erneut überragenden Vincenzo Scifo, wie ausgehungerte Heuschrecken nach vorne, während die halbe Mannschaft Uruguays noch in der belgischen Hälfte herumtrödelte.

So fiel auch das 1:0. In der 14. Minute standen wieder vier Uruguayer an der Mittellinie und trauerten ihrem gerade gescheiterten Angriff nach: Sosa, Francescoli, Paz und vor allem Alzamendi, auf dessen Seite der Gegenangriff vonstatten ging. Sein Bewacher de Wolf konnte in aller Ruhe flanken, und ein anderer Abwehrspieler, Clijsters, köpfte den Ball ins Tor.

Als in der 22. Minute Scifo vollkommen unbehelligt in Ballbesitz kam und den Südamerikanern, deren Fernschüsse eine Qual für jeden Zuschauer waren, vormachte, wie ein 25 -Meter-Schuß auszusehen hat, stand es bereits 2:0, und da half es dann auch nichts mehr, daß der ausgezeichnete Schiedsrichter Kirschen (DDR) Ruben Sosas ärgsten Widersacher Eric Gerets („Gurke des Tages“) wegen wiederholten Foulspiels in Tateinheit mit wütendem Fluchen des Feldes verwies.

In der Halbzeit wurde - viel zu spät, wohl um ihn nicht zu deprimieren - Alzamendi durch Aguilera ersetzt, der gleich wesentlich mehr Gefahr brachte, aber den endgültigen Niederschlag auch nicht verhindern konnte. Ein weiterer Konter von drei Belgiern gegen zwei Uruguayer ermöglichte Ceulemans, dem Dominguez auch noch artig aus dem Weg ging, das 3:0, und obwohl Uruguay nicht aufsteckte, eifrig angriff und sich viele Riesentorchancen herausspielte, gelang nur ein einsames Tor durch Bengoechea (74.).

Der sichere belgische Torwart Preud'homme, wieder ohne seine Sonnenbrille (Foto), war kaum zu überlisten und leistete sich sogar den Luxus, Bengoechea, der auf undurchsichtige Art mit ihm aneinandergeraten war, durch seine Fürsprache vor der gelben oder gar roten Karte zu bewahren.

Und Enzo Scifo, den seine Mitspieler, obwohl erst 24, schon den „Patron“ nennen, lief dem nachlassenden anderen Enzo aus Uruguay endgültig den Rang ab und brillierte mit Ruhe und Übersicht in der Abwehrschlacht, die die wackeren Belgier in diesem ansehnlichen Spiel zu liefern hatten. „Er war der Beste“, sagte sein Trainer Guy Thys hinterher.

Es blieb beim 3:1, einem Ergebnis, das angesichts des Spielverlaufs und der Bevölkerungszahl der beiden Länder ziemlich in Ordnung geht, denn Belgiens fast zehn Millionen Einwohnern stehen knapp drei Millionen Uruguayer gegenüber. Belgien hat das Achtelfinale erreicht, die Uruguayer aber müssen mächtig zittern. In ihrem letzten Gruppenspiel brauchen sie unbedingt einen Sieg. Aber da geht es gegen Südkorea, und das hat 42 Millionen Einwohner.

Belgien: 1 Preud'homme - 2 Gerets, 7 Demol, 13 Grun, 16 de Wolf - 4 Clijsters (46./6 Emmers), 8 van der Elst, 10 Scifo, 9 Degryse, 5 Versavel (73./22 Vervoort) - 11 Ceulemans

Uruguay: 1 Alvez - 4 Herrera, 3 de Leon, 2 Gutierrez, 6 Dominguez - 8 Ostolaza (57./16 Bengoechea), 5 Perdomo, 10 Ruben Paz - 7 Alzamendi (46./18 Aguilera), 9 Francescoli, 11 Ruben Sosa

Schiedsrichter: Siegfried Kirschen (DDR)

Tore: 1:0 Clijsters (15.), 2:0 Scifo (23.), 3:0 Ceulemans (46.), 3:1 Bengoechea (73.)

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