MILIEU EUROPA

■ George Bernhard Shaws „Haus Herzenstod“ im Deutschen Theater Berlin

Thomas Langhoff, ein ost-west-wandernder Regisseur, ist in seinen neueren Inszenierungen dem Motiv der Reise ins Ungewisse, der Verlockung des Meeres und den verrückten Seeleuten gefolgt. Beim Theatertreffen hat er uns Ibsens „Frau vom Meer“ (Cornelia Froboess) sehen lassen, die von dunklen Mächten bedrängt wird, deren Inkarnation der fliegende Holländer ist.

In seiner neuesten Inszenierung, George Bernhard Shaws Dreiakter „Haus Herzenstod“, geht es wiederum um eine Reise, die von einem verrückten Kapitän gesteuert wird: sein Haus, das er zu einem Schiff umgebaut hat, ist metaphorische Begegnungsstätte der englischen Bourgeoisie.

Hinter der schmalen Reling des Bühnenbildes reiht sich nach und nach die Snobiety auf. Sie macht klar, daß die Begrenzung kurz hinter der Rampe zugleich die eines Boxrings ist: man liefert sich hier einen Psychokrieg, der in eine Untergangseuphorie münden wird. „Haus Herzenstod verstand nicht, zu leben. In diesem Zustand blieb ihm nichts anderes übrig, als damit zu prahlen, daß er wenigstens zu sterben verstünde“. Im Schlußbild bricht der erste Weltkrieg aus, als hätten ihn die Protagonisten herbeigeredet, der Balken kracht von der Decke, man ist unter der Führung des Kapitäns sowohl auf ein Riff gelaufen wie an's Ende der alten Zeit gelangt.

Haus Herzenstod ist aber auch das „verfeinerte, müßige Europa“. Shaw, der Aufklärer, klagt - in einer Variation des Shakespearschen Lear-Themas - die in Gleichgültigkeit und Amoralität sich gefallende Oberschicht an. Langhoff hat diese Nihilismuskritik, vermittelt durch den buddhistisch angehauchten Kapitän Shotover, als ein Zwitterwesen zwischen Boulevardkomödie und Psychodrama mit europäischem Zuschnitt inszeniert.

Die Personen, die sich in diesem Narrenschiff zusammenfinden, zeichnen sich zunächst durch ein gegenseitiges Verkennen aus. Der Vater, Kapitän Shotover (Reimar Baur) erkennt seine Töchter Hesione (Jutta Wachowiak) und Ariadne (Christine Schorn) nicht, sie erkennen sich untereinander ebenfalls nicht; die eingeladene Freundin Elli Dunn (Johanna Schall) verkennt, daß ihr Geliebter der Ehemann ihrer Freundin namens Hector (Dieter Mann) ist; der Kapitän hält Ellis Vater (Volkmar Kleinert) wegen einer Namensgleichheit für einen von ihm verachteten Seeräuber und Dieb; Elli hält den berechnenden Kapitalisten Mangan (Horst Hiemer) für einen karitativen Menschen; nur die Amme (Elsa Grube-Deister) weiß sofort, daß der Einbrecher (Günter Sonnenberg) ihr früherer Ehemann ist: genug Stoff für eine Komödie, was das Stück denn auch einerseits ist.

Was es aber nicht komödiengerecht macht, ist die Tatsache, daß alle Verkennung sofort bloßgelegt wird. Elli erfährt gleich am Anfang, daß ihr geliebter Tigererretter in seinem Leben noch keinem Tiger begegnet ist. So bekennt sie nach diesem ersten „Herzensbruch“ offen, daß sie den Unternehmer nur wegen seiner Millionen heiraten will. Der wiederum gesteht ihr, daß er ihren Vater absichtlich zum Bankrott geführt hat. Blindheit, Trug, Verkennen - was Stoff unzähliger Dramen ist, wird hier gleich von vornherein als zu banal beiseitegeräumt.

Die Verzweiflung hat höhere Dimensionen. Man zerfleischt sich in einem Kulturvakuum. Man ist grausam, um wenigstens etwas zu sein. Sechs Jahre, sagt der Vater, sei die normale Zeit für Kinderliebe. Er ist kein Geblendeter wie König Lear. Glück ist ihm nicht Ziel für sein Alter, er will sein Leben durch zielgerichtete Tätigkeit sinnvoll zu Ende führen. Und dennoch benötigt er dafür die Maske des komischen Kauzes. Hesiones Ehemann klagt darüber, daß man sich nur über Rollenspiel an der Haushaltsführung beteiligen kann. Man ist gewzungen, Masken zu tragen - das unumgängliche Ausprobieren von Illusionen hält die Personen in diesem Geisterschiff fest.

Liebesspiele eignen sich dafür am besten. Elli liebt nach ihrem verlorenen Tigererretter kurzfristig den Unternehmer und später den Steuermann. Hesione hat eine Schwäche für Ellis idealistischen Vater und bezirzt gleichzeitig den Kapitalisten, damit er seine schweinische Seite zeigt. Ariadne führt den Bruder ihres Ehemanns, Randall (Michael Schweighöfer) mit sich als Gespielen und läßt sich mit Hesiones Ehemann ein. Jeder erpreßt jeden. Kein Herz zu haben, das trotz der Liebesversuche brechen könnte, ist Leitthema. Als ein Einbrecher in der Villa auftaucht, will ihn keiner anzeigen, weil keiner die Kraft zur Gerechtigkeit hat.

Verkrampfte Unkonventionalität ist so das letzte, was bleibt. Das einzige, was sich zwischen diesen gelbgeflammten Wänden ereignet und am Schluß von dem aufsteigenden Bodennebel zugedeckt wird. Damit ist das Stück eine Groteske, ein Versuch, die Seichtheit hart zu konturieren. Ein Spiel, das ständig umschlägt und mit eleganter Exzentrik ausagiert wird. Die Brüche und Minirisse, die dabei die Personen durchziehen, sind Langhoffs Spezialität - am wunderbarsten sichtbar an Elli, dem treudoofen Mädchen, das zur Schlange und später zur Idealistin mutiert. Allerdings bleibt es unter seiner Führung bei einer gewissen Unentschiedenheit zwischen Typisierung und individueller Figur. Elli irrlichtert zwischen überdimensionierten Egomanen, einem männerverschlingenden Vamp und einer von Distinguiertheit aufgeblähten Zynikerin, einem Kingkongunternehmer und einem verbohrten Steuermann, einem spätantiken Hector und ihrem gutgläubigen Vater dahin. Sie wurde vom Regisseur von hundert Seiten modelliert. Ihre unerwarteten Gesten, das ständig Überraschende und Ungewohnte, wünschte man sich mehr auf die anderen Mitglieder verteilt. Wenn es mehr Brüche gäbe, benötigte man am Schluß die Zirkusapokalypse nicht.

Michaela Ott