: Ein zweiter Sarg für Tschernobyl
Reaktorruine in der Ukraine soll zweite Ummantelung erhalten Deckenkonstruktion gefährdet / Vorsorgliche Evakuierungen von Kindern ■ Aus Wien Walter Oswalt
In Tschernobyl droht der Sarkophag, der die Umwelt vor dem strahlenden Reaktorwrack schützen soll, durch den ständigen radioaktiven Beschuß „undicht“ zu werden. Die Verhältnisse innerhalb des Sarkophags sind so instabil, daß von außen eingegriffen werden muß. Kinder aus der Umgebung von Tschernobyl sollen in Ferienheime weit weg vom Atomreaktor evakuiert werden. Diese Informationen, die bislang eher gerüchteweise aus Kiew nach außen drangen, wurden am Dienstag durch Äußerungen von Nikolai P.Lawjorow, stellvertretender Vorsitzender des Ministerrates der UdSSR und teilweise auch von der IAEO in Wien bestätigt. Lawjorow besuchte die Wiener Wirtschaftsmesse. Auf Befürchtungen der Bevölkerung Kiews angesprochen, daß es erneut zu einem gefährlichen Austritt von Radioaktivität in Tschernobyl kommen könnte, sagte Lawjorow gestern auf einer Pressekonferenz: „Es gibt keinen Grund anzunehmen, daß eine Extrastrahlung entstehen könnte, dies könnte nur nach einer Explosion erfolgen. Aber ich muß unterstreichen, daß es an einigen Kontruktionselementen des Reaktors tatsächlich Probleme gibt: An der Deckenkonstruktion müssen Arbeiten durchgeführt werden, damit die Sicherheit gewährleistet wird.“
Lawjorow war letzte Woche wegen der Sanierungsarbeiten von Tschernobyl selbst in Kiew. Er bestätigte Befürchtungen in der Bevölkerung, „daß einige Reaktorelemente der Konstruktion zusammenbrechen könnten“. Lawjorow vertraut indes den Experten, die „dies für ausgeschlossen halten.“ Zugleich machte Lawjorow aber deutlich, daß es notwendig sei, von außen in den hochverstrahlten Reaktor - durch die Ummantelung des Sarkophags hindurch - einzugreifen: „Ich muß noch unterstreichen, daß wir daran arbeiten, wie wir diese gefährdeten Reaktorelemente sichern können.“
Die Internationale Atomenergiebehörde in Wien zeigte sich über diese hochbrisanten Maßnahmen gestern nicht informiert. Der Sprecher der IAEO, Hans Friedrich Meyer, betonte, daß seine Behörde nicht mit den Verhältnissen im Reaktor beschäftigt sei. Gleichzeitig bestätigte Meyer aber Befürchtungen, der Sarkophag könnte die Strahlenbelastung von innen auf die Dauer nicht aushalten: „Es soll eine zweite Hülle gebaut werden.“ Auf die Frage, warum der bisher als strahlensicher präsentierte Sarkophag selbst noch einmal eingebunkert werden soll, antwortete der IAEO-Vertreter: „Weil das damals sehr schnell gegangen ist, und weil da sehr viel Strahlung ist. Wir müssen das dichter haben.“
Meyer bestätigte einen Bericht der Kiewer Zeitung 'Wertscherni Kiew‘, wonach der Kiewer Stadtrat ein Achtpunkteprogramm verabschiedet hat. Der Bevölkerung wird darin empfohlen, ihre Kinder einen Monat länger als normal, bis zum Oktober, in Ferienheimen unterzubringen. Meyer dazu: „Die Sowjets schicken die Kinder länger in die Ferien, in Heime weit weg von da. Ob das aus Strahlungs- oder nur aus psychologischen Gründen gerechtfertigt ist, das können wir im Augenblick nicht sagen.“ Meyer ergänzte, daß diese Evakuierungen nichts besonderes seien. In sozialistischen Ländern würden Kinder auch zu Heizzeiten oft evakuiert, „wenn die Luft schlecht ist“.
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