: Der Anti-Katechismus der Kolumbianer
Die Bundesrepublik wird Gruppensieger durch ein 1:1 gegen Kolumbien, das sich ebenfalls für das Achtelfinale qualifiziert ■ Aus Mailand Matti Lieske
Ruhm ist eine vergängliche Sache bei einer Fußball -Weltmeisterschaft. Das mußten zuerst die Italiener erfahren, die nach ihrem 1:0 gegen Österreich in den siebten Himmel gehoben, nach dem selben Ergebnis gegen die USA aber in Grund und Boden verdammt wurden, und nun erwischte es die Mannschaft der Bundesrepublik, die in der letzten Woche von jedem der hunderttausend „Fachleute“, die in italienischen Gazetten alle Tage befragt werden, zum Topfavoriten des Turnieres erklärt worden waren.
„Die Grundregel ist, nicht nach dem Katechismus des europäischen Fußballs zu spielen“, hatte Trainer Francisco Maturana seine Leuten eingehämmert, „wir müssen die Konfrontation auf den Gebieten der Schnelligkeit und der physischen Kraft vermeiden.“ Die Taktik klappte ausgezeichnet, und die Kolumbianer machten die Deutschen des öfteren geradezu lächerlich.
Mit ihrem traumhaft sicheren Kurzpaßspiel nahmen sie das Tempo aus dem Spiel, leichtfüßig umtänzelten sie die schwerfällige Abwehr um den täppischen Augenthaler, und selbst die gefürchtete Sense des Hans Pflügler schwirrte immer wieder ins Leere. Vorn produzierte das von sich selbst in höchsten Tönen gelobte Stürmerduo Klinsmann-Völler nichts als Blendwerk, und unumschränkter Beherrscher des Mittelfeldes war keineswegs der gerühmte Matthäus, sondern Kolumbiens Carlos Valderrama, der die bisher beste Darbietung eines Mittelfeldspielers bei dieser WM zeigte.
Obwohl stets eng gedeckt, lief jeder Angriff über ihn, sicher kontrollierte er die Bälle, seine kurzen wie langen Pässe kamen hundertprozentig genau und brachten den Stürmern eine ganze Reihe von hervorragenden Tormöglichkeiten. Die Kolumbianer haben jedoch mit den anderen südamerikanischen Teams aus Uruguay, Argentinien und Brasilien eine Eigenschaft gemeinsam, die im Fußball nicht unbedingt förderlich ist: Sie treffen äußerst selten ins Tor.
Zudem mußten sie nicht nur gegen die Deutschen, sondern auch gegen Alan Snoddy spielen.
Der nordirische Schiedsrichter war nicht nur eine absolute Flasche, sondern auch noch einer jener zahlreichen nordeuropäischen Referees, die von tiefem Widerwillen und Dünkel gegenüber Südeuropäern und erst recht Südamerikanern beseelt sind. Für den Rassisten in Schwarz waren die Kolumbianer offenbar allesamt Schauspieler und Schurken, und während er den Deutschen bereitwilligst jede Menge Freistöße zuerkannte, ließ er rund die Hälfte aller Fouls an den Kolumbianern ungeahndet.
Snoddy war es auch, der die Südamerikaner mitten in ihrer stärksten Phase kurz vor der Halbzeit, als sie mit der deutschen Abwehr nach Belieben Katz und Maus spielten, völlig aus dem Konzept brachte. Als Augenthaler wie ein Tobsüchtiger auf Valderrama eingetreten hatte, der verletzt liegenblieb, verweigerte der Schiedsrichter den Betreuern hartnäckig den Zutritt zum Spielfeld, obwohl die Kolumbianer sogar den fälligen Freistoß aus bester Position absichtlich ins Aus schossen.
Anders als im Spiel der Araber gegen Kolumbien, wo in einem ähnlichen Fall beide Teams den Ball solidarisch so lange über die Seitenlinie beförderten, bis der Schiedsrichter endlich ein Einsehen hatte, spielten die Deutschen jedoch emsig weiter. Und als Valderrama schließlich, nachdem er mit einer Bahre vom Platz getragen und behandelt worden war, zurückkehrte, mußte er sich dafür, daß er die Frechheit hatte, nicht im Krankenhaus zu landen, auch noch gehässige Bemerkungen und Gesten von Rudi Völler gefallen lassen.
Die Deutschen kamen erst besser zum Zug, als Kolumbien in der letzten Viertelstunde begann, auf ein 0:0 zu spielen. Kurz vor Schluß - die Südamerikaner glaubten, den einen Punkt, den sie zum Einzug ins Achtelfinale brauchten, sicher zu haben - brachte ein erneutes, nicht gepfiffenes Foul im Mittelfeld die Bundesdeutschen in Ballbesitz, Völler hatte seinen gelungensten Auftritt, ließ drei Mann stehen, spielte zu Littbarski und der wuchtete den Ball ins Netz.
Nach diesem grausamen Mißgeschick in der 89. Minute waren die Kolumbianer praktisch schon in Tränen aufgelöst, hatten sich total aufgegeben und spielten nur noch aus einer Art Pflichtgefühl weiter. Doch dann, in der 92. Minute, gelang Valderrama nach einem perfekten Doppelpaß ein letztes geniales Anspiel, Rincon stand plötzlich frei vor Illgner, trat einfach irgendwie zu und konnte es selbst am allerwenigsten fassen, daß der Ball mitten durch des Torwarts Beine über die Linie rollte.
„Dafür gibt es keine Worte“, versuchte Maturana diesen glorreichen Augenblick in der kolumbianischen Fußballgeschichte hernach zu beschreiben, „so etwas muß man leben.“
BRD: Illgner - Augenthaler - Berthold, Buchwald - Reuter, Häßler (86.Thon), Matthäus, Bein (46.Littbarski), Pflügler Völler, Klinsmann
Kolumbien: Higuita - Herrera, Perea, Escobar, Gildardo Gomez - Alvarez, Valderrama, Gabriel Gomez, Fajardo - Estrada, Rincon
Zuschauer: 72.510
Tore: 1:0 Littbarski (89.), 1:1 Rincon (90.)
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen