: Unfähigkeit zu politischem Handeln
Ludwig Mehlhorn von „Demokratie Jetzt“ kritisiert die DDR-Bürgerbewegung ■ D E B A T T E
Die Bürgerbewegungen in der DDR sind wieder dort angelangt, wo sie im Herbst des vergangenen Jahres begonnen haben. Am 18.März sind wir von einer großen Koalition (SED plus Blockparteien) in die nächste geschlittert. Nach dem 6. Mai ist im Roten Rathaus alles beim alten geblieben. Nur der Hauptmieter hat gewechselt. Der heißt nicht mehr SED, sondern SPD.
Dreizehn Wochen nach den ersten freien Wahlen stellen wir fest, daß die politischen Zustände in der DDR denen vor der Herbstrevolution immer ähnlicher werden.
Soweit eine kleine Kostprobe von Äußerungen maßgeblicher VertreterInnen der Bürgerbewegungen des Bündnis 90 aus den letzten Wochen. So oder ähnlich dokumentieren viele von uns ihre derzeitige „Befindlichkeit“. Freunde von mir sind darunter, auch solche aus der alten Oppositionszeit der achtziger Jahre. Ich halte den politischen Inhalt solcher Sätze für grundsätzlich falsch und den gereizten Ton, in dem sie zuweilen vorgebracht werden, für einen Ausdruck von Selbstgerechtigkeit und Selbstüberschätzung.
Daß solche Äußerungen die Bürgerbewegungen in der Öffentlichkeit immer mehr in die Nähe jener Partei rücken, die sich jetzt PDS nennt, wäre noch zu verschmerzen. Doch leider verbirgt sich dahinter ein eklatanter Mangel an Urteilsvermögen über den Charakter der Veränderungen in der DDR seit dem Herbst des vergangenen Jahres. Allein schon die Tatsache, daß die eingangs zitierten Sätze in kommunal oder staatlich verwalteten Räumen gesagt werden, die eigens zu Versammlungszwecken angemietet wurden (und nicht in Privatwohnungen oder Kirchen), daß sie in Zeitungen geschrieben werden, die in der DDR erscheinen oder unbehindert vertrieben werden können, sollte ihre Urheber eines Besseren belehren. Doch damit nicht genug. Nach der Wahlschlappe vom März wurden eine Reihe von Erklärungen vorgebracht, die im Kern gar nicht falsch sind, auf Dauer aber nur die eigene Unfähigkeit zum politischen Handeln bemänteln. Das Volk ließ sich von haltlosen Versprechungen die Sinne vernebeln, und den Westparteien wird die Verantwortung dafür zugeschoben, daß die Geschichte einen listigen Haken schlug, wieder einmal ihre Unberechenbarkeit demonstrierte und nicht nach dem Szenario unserer Planspiele ablief. Nur eine Analyse der eigenen Fehler habe ich noch nirgends gelesen. Und die wiederum wird noch lange auf sich warten lassen, solange nicht klar ist, was unsere heutige Situation von der vor einem Jahr unterscheidet.
Was ist seit September geschehen? Die Antwort lautet: die Demontage und schließlich der Sturz einer Diktatur. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Nicht mehr, weil wir nach dem kartenhausähnlichen Zusammenbruch der SED-Herrschaft noch lange nicht am Ziel sind. Wir haben aber die Chance des Übergangs in einen demokratischen und sozialen Rechtsstaat, wie alle anderen osteuropäischen Länder auch, mit gewissen Sonderbedingungen, die im Moment nicht mein Thema sind. (Nur soviel: Die Startbedingungen vor allem im sozialen und wirtschaftlichen Bereich sind ohne unser eigenes Verdienst erheblich besser als in Polen und Ungarn, der CSFR und Rumänien, von der Sowjetunion ganz zu schweigen.)
Daß ein Gemeinwesen wie das unsere nicht automatisch die Grundlagen einer funktionierenden Rechtsstaatlichkeit hervorbringt, daß sich demokratische Strukturen nicht über Nacht herausbilden und wunderbar vor unseren Augen dastehen, wenn der Morgennebel sich lichtet, daß es noch jahrelanger Anstrengungen bedarf, um mit dem wirtschaftlichen Ruin und den geistigen Hinterlassenschaften der Diktatur fertigzuwerden, daß die Transformation einer amorphen Bevölkerungsmasse in eine Gesellschaft ein (Selbst) -Erziehungsprozeß ist - haben wir das alles nicht gewußt? Bis zur Demokratie ist es mithin noch weit, und weil wir irgendwann dort ankommen wollen, müssen alle Regelverletzungen demokratischer Kultur beim Namen genannt werden. In den letzten Wochen gab es davon nicht wenige, denken wir nur an die Art und Weise, wie die Volkskammer und die Regierung die Verfassungsfrage behandelten oder wie der Staatsvertrag zustande kam.
Aber was haben selbst solche schwerwiegenden Defizite an Demokratie im Prozeß der Willensbildung und Entscheidungsfindung mit den politischen Zuständen in der DDR vor dem Herbst des vergangenen Jahres gemeinsam? Die seither eingetretenen Veränderungen kann in ihrer Tragweite nur verkennen, wer - um ein Beispiel zu nennen - in den Aufmärschen der SED einen Beweis dafür sehen will, daß das Demonstrationsrecht schon immer gewährleistet war.
Selbstverständlich bin ich dafür, daß das Demonstrationsrecht nunmehr Eingang findet in die politische Kultur, auch dann, wenn es um die Vertretung der sozialen Interessen von bestimmten Gruppen geht. Aber die Studenten sollten sich daran erinnern, daß sie jetzt das Recht haben, die Aufbesserung ihrer Stipendien zu verlangen. Vor einem Jahr noch kamen sie in der überwiegenden Mehrheit lediglich ihrer Demonstrationspflicht nach - als Staffage für das millionenschwere, im altstalinistischen Stil inszenierte Pfingsttreffen der FDJ. Wenn sie damals statt dessen eine ähnliche Veranstaltung - Demo für mehr Stipendien vor der Volkskammer - inszeniert hätte, was wäre wohl passiert? Wir hätten keine - auch für meinen Geschmack viel zu monströse - Polizeikette gesehen, wie sie Minister Diestel unlängst aufstellen ließ. Bevor der Minister des Innern und Chef der deutschen Volkspolizei, Friedrich Dickel, aktiv geworden wäre, hätten Mielkes zivile Jungs die „Rädelsführer“ längst ermittelt... Ein paar Wochen später hätte das Disziplinarverfahren stattgefunden, und ohne viel Aufsehen wäre die Exmatrikulation verfügt worden.
Ist vielleicht schon vergessen, wie noch vor kurzem hierzulande Macht ausgeübt wurde? Noch ist nicht mehr geschehen als der Sturz einer Diktatur. Aber eben auch nicht weniger. Deshalb läßt sich mit etlichen Niederlagen der Bürgerbewegung durchaus leben. Schwer erträglich ist es indessen, wenn das Kind der eigenen Erfolge mit dem Bade der Unzufriedenheit über die neue Situation ausgeschüttet wird. Ein anderer Innenminister als Diestel ist unschwer vorstellbar - einer, der nicht FDJ-Sekretär war und noch 1985 in einer Dissertation beflissen Parteitagsreden zitiert hat. Vor allem seine Ausländerpolitik ist nicht hinnehmbar. Wer aber meint, wir wären wieder angekommen, wo wir vor einem Jahr standen, der irrt. Die totalitäre Ära ist zu Ende gegangen. In den Bürgerbewegungen leichthin vom Gegenteil zu reden, heißt, an der Entwertung der eigenen Leistung zu arbeiten. Diestel kann gar nicht handeln wie Dickel, weil er unter gänzlich veränderten politischen Rahmenbedingungen tendenziell rechtsstaatlichen - agieren muß. Oder hat man jemals gehört, daß die SED-Fraktion öffentlich den Rücktritt ihres Innenministers verlangt hätte?
Noch haben wir den Rechtsstaat nicht. Die meisten der dafür erforderlichen Institutionen funktionieren höchst unzulänglich oder existieren noch gar nicht. Aber der politische Raum hat sich grundlegend verändert und damit auch die Rolle der Opposition. Im alten System bezog sie ihre Überzeugungskraft aus ihrem Treueverhältnis zu jenen unveräußerlichen Werten, die von den Mächtigen mit Füßen getreten wurden. Die oppositionellen Dissidenten verfügten in der Regel über nichts anderes als ihre Glaubwürdigkeit. Ihr einziges Kapital gegenüber der Öffentlichkeit war die moralische Integrität der Person. Die setzte man um so weniger aufs Spiel, je konsequenter man sich dem Spiel um die Macht entzog. Die sich auf dieses Spiel dennoch einließen, zum Beispiel „um Schlimmeres zu verhüten“, haben teuer dafür bezahlt. Jeder Kompromiß kostete ein Stück der eigenen Unabhängigkeit.
Heute ist der politische Raum prinzipiell offen. Niemand muß, wenn er ihn betritt, seine Überzeugungen an der Garderobe abgeben. Politik ist eine Frage des gemeinsamen Gestaltens geworden, nicht mehr des „Mitmachens“. Und nicht jeder, der Kompromisse einzugehen bereit ist, erliegt den Versuchungen der Macht, der Bequemlichkeit des Opportunismus oder der eigenen Schwäche.
Ludwig Mehlhorn
Der Autor gehört zur DDR-Opposition der 80er Jahre und ist Mitgründer der Bürgerrechtsbewegung „Demokratie Jetzt“. (Der Text wurde leicht gekürzt.)
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