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Andacht und Zersetzung

■ Auszüge aus einer historisch-psychologischen Studie „Die Revolution als psychische Massenerscheinung“, die 1920 in München erschien

Hans Freimark

Das Versagen jeder Politik im bisherigen Sinne ist zu deutlich, als daß nicht jedem die Notwendigkeit einer gründlichen Wandlung klar wäre. Daher die Suche nach dem und den Schuldigen. Auch das ist einer der Grundzüge, die jeder revolutionierten Masse eigentümlich sind. Die Masse braucht einen Sündenbock. Sie fühlt sich niemals selber schuldig. Erkenntnis ihrer Fehler, ihrer Unterlassungen, ihrer Übertreibungen ist ihr versagt. Das ist darauf zurückzuführen, daß sie sich, ungeachtet aller Aktivität ihres Handelns, jenseits aller Verantwortung fühlt. Verantwortung kann nur vorhanden sein, wo Herrschaft über sich selber besteht. Die Masse empfindet jedoch instinktiv, daß ihr diese Möglichkeit abgeht, und sie empfindet dies keineswegs unangenehm. Aus der Verantwortungslosigkeit der Masse quillt ihr der Rausch, der ihre einzelnen beseligt und von sich ablöst. Schuldeinsicht von der Masse verlangen, heißt, ihr Unmögliches zumuten. Sie hat zudem recht, wenn sie für sich ein Schuldbekenntnis ablehnt, denn sie ist stets und ständig geschoben. Zuweilen von bewußtem Führerwillen, weit häufiger jedoch von ihren unterbewußten unausgesprochenen Trieben und Drängen. Diese Bindung spürt die Masse. Sie ahnt, daß da etwas vorhanden ist, was sie schuldig macht, obwohl sie sich keiner Schuld bewußt ist. Sie glaubt sich verraten, brüllt auf, schlägt um sich und sucht das unheimliche Bedrückende gegenständlich zu fassen. Die Schuld in einem Schuldigen. In irgendeinem. Und so setzen sich denn Tausende von Augen in Bewegung, den Unheilstifter zu erspähen. Anklagen werden erhoben, Richter bemüht, Urteile gefällt und, was das Ärgste ist, vollstreckt. Noch immer haben nach einem großen nationalen Unglück die Völker nach dem Schuldigen gefahndet. Und sicher liegt in allen solchen Fällen außer der großen Schuld, in die alle, ohne Ausnahme, verstrickt sind, auch manche Individualschuld vor. Aber gerade dieser gegenüber ist ein Aburteilen das Verkehrteste, was es geben kann, weil durch einen derartigen Vorgang die Aufmerksamkeit von den allgemeinen Unzulänglichkeiten ab auf ein Besonderes hingelenkt wird, das schließlich in einem übertriebenen Maße für Handlungen büßen muß, zu denen im Grunde genommen jeder beigetragen hat. Vielfach ist diese Ablenkung der Zweck der ganzen Übung. Die Massen sollen beschäftigt, ihre Vorstellungen beeinflußt und nach einer bestimmung Richtung hingelenkt werden.

In dieser Hinsicht sind die antisemitischen Treibereien überaus beachtenswert. Vor allem, daß sie sich ebenso in England wie in Ungarn und Deutschland ereignen. Die Erklärung, daß die feindselige Stimmung gegen die Juden darauf zurückgehe, daß sie verhältnismäßig am wenigsten vom Kriege verspürt und sich am meisten durch ihn bereichert haben, ist nicht stichhaltig. Denn einmal haben sie gleich allen übrigen sich in den Kampf stellen müssen, und zum andern haben keineswegs sie allein Geschäfte gemacht und Nutzen aus der Konjunktur gezogen, sondern es haben sich daran Angehörige aller Bevölkerungskreise und -schichten beteiligt. In Wahrheit sind derartige Beschuldigungen nur ein Bewußtseinsvorwand, der eine instinktive Abneigung begründen soll. Diese ist in betreff der Juden nicht erst seit dem Kriege vorhanden. Sie war da und sie wird immer bestehen. Das Eigentümliche, was die Völker gegen die Juden aufbringt, ist die Empfindung, daß diese, obwohl in die Völker eingefügt, doch nicht völlig zu ihnen gehören. Es ist nicht das Antinationale, was einzelne Juden zuweilen zur Schau tragen, sondern das ihnen allen innewohnende Anationale, das die Massen reizt, und es leicht macht, die Juden sowohl als Nutznießer wie als Anstifter eines völkischen Unheils zu bezeichnen. So heißt es in einem vom „Reichshammerbund“ in Hamburg herausgegeben Flugblatte 'Die Hintermänner‘: „1914 ließ sich die von der Judenpolitik beherrschte Regierung Bethmann Hollwegs in den Krieg gegen Rußland treiben... Da Frankreich und England mit Rußland verbündet waren, brach darüber folgerichtig der große Judenkrieg los. - Deutschland ist von den Juden, die Rußland wegen seiner gesunden Gesetze gegen die Juden zertrümmern wollten, als Mittel zum Zwecke mißbraucht und seit 1890 bewußt dem furchtbarsten aller Kriege und damit dem eigenen Bankrott zugejagt worden.“ Aber auch zur Durchführung der Revolution traten die Juden an den verschiedensten Stellen in Aktion. Diese Tatsache ist unbestritten, aber sie beruht auf anderen Voraussetzungen, als denen, die das Flugblatt des „Reichshammerbundes“ annimmt. Die revolutionäre Neigung der Juden ist eine Angelegenheit des Temperamentes und eine solche ihrer sozialen Lage. Jede fortschrittliche Entwicklung bedeutet für sie einen Gewinn. Es ist selbstverständlich, daß sie alles tun, Geschehnisse zu fördern, die möglicherweise einen ihnen günstigen Verlauf nehmen werden. Ein weiterer Grund ihres Verhaltens, und am Ende in Wahrheit der einzig zureichende, ist, daß sie kraft ihrer eigentümlichen Stellung gewissermaßen zwischen den Völkern ein stärkeres und lebendigeres Wollen für das Menschheitliche besitzen. Es ist in diesem Zusammenhange nicht zu umgehen, darauf hinzuweisen, daß die größte geistige Revolution, jene des Christentums, ihren Ausgang von Juda nahm. Ihr Auszeichnendes waren gerade die menschheitlichen Gedankengänge, und die Leiter des römischen Staates wußten sehr genau, warum sie die Christen verfolgten. Es geschah nicht wegen ihres Glaubens an den Christus. Gegen neue Götter hat sich Rom nie gesträubt. Es kehrte sich gegen das Christentum, weil dessen menschheitliche Tendenzen das Staatsgefüge zu sprengen drohten.

Im Gegensatz zu diesen Wallungen, von denen Schriften wie die Wichtls und ähnliche lediglich ein Ausdruck sind, steht das Anschwellen der spiritualistischen Strömungen in den Massen. Weite Kreise sind von Bußestimmung erfüllt. Die Aufforderungen zur Ablegung eines politischen Schuldbekenntnisses, wie sie besonders von Prof. Dr. Fr. W. Förster, von Eisner und von Hellmut von Gerlach ausgingen, sind zwar auch von andern Motiven bedingt, aber die religiöse Einstellung ist gleichwohl unverkennbar. Sie prägt sich in der Unbedingtheit aus, mit der die sühnenden Geständnisse geheischt, und die Rücksichtslosigkeit, mit der sie gegeben werden. Das Verlangen nach Ablösung der Schuld ist so groß, daß alle Bedenken beiseite gelassen werden. Von der Schuld des andern will die Art von Religiösen nichts wissen. Was ist ihnen der andere? Wenn sie nur ihre Seele retten. Sie glauben menschlich, ja übermenschlich zu handeln, und verfahren dabei unmenschlich wie jeder, der nur sich selber sieht. Die Reinigung, die mit den Schuldbekenntnissen, ganz im religiösen Sinne, erstrebt wird, ist mit diesen nicht zu erreichen, da ihre Bedeutung für die anderen steht und fällt mit deren Glauben an die Ehrlichkeit des Bekennenden. Wird diese bezweifelt, und das geschieht, so ist ein großer Aufwand nutzlos vertan.

Der radikalen Buße- entspricht eine ebenso radikale Erwartungsstimmung. Die bolschewistischen Ideengänge haben bei den geistigen Menschen der westlichen Länder weit mehr um ihres religiösen Gehaltes, denn um ihrer politischen Bedeutsamkeit Anklang gefunden. In seinem Aufsatz über den Geist der russischen Revolution nennt Alfons Paquet das Sowjetsystem geradezu die „Verfassung des Tausendjährigen Reiches“. Und Berta Lask sagt von der Lehre des Bolschewismus: Sie „ist nicht Zerstörung allein, sondern Aufbau, sofortige Einführung des realen Sozialismus, Neueinteilung der Erde ohne Rücksicht auf widerstrebendes Menschen- und Sachmaterial, gewaltsame Einführung von Gerechtigkeit und Menschenliebe, wobei Liebe und Gerechtigkeit sich auf nichts Vergangenes und Bestehendes, sondern auf Zukünftiges und Neuwerdendes, ja im Grunde auf nichts Seiendes, sondern auf sich selbst richten. Gerechtigkeit um der Verherrlichung ihrer selbst willen! Dies bedeutet wahrlich ein religiöses Glauben von überwältigender Kraft und“, setzt sie hinzu: „zugleich eine an Verruchtheit grenzende Härte.“ Dennoch bekennt sie: „Durch die Kraft des Glaubens, durch die große Idee, die ihm zugrunde liegt, ist der Bolschewismus stark und siegreich und durch den unbedingten, von keinen Skrupeln beschwerten Willen zur Verwirklichung...“

Ähnliches meint Wyneken, wenn er in einem Aufsatz Revolution ausruft: „Wir fühlen, daß diese Revolution Weltrevolution ist, nicht im geographischen, sondern im metaphysischen Sinne. Wir bedürfen eines neuen Prinzips der Weltordnung. Wir sind des alten Systems, auch wenn es unser Privatleben noch weich einbettete, bis zum fürchterlichsten Ekel überdrüssig.“ - Aus dem gleichen Empfinden quillt Karl Mennickes‘ Forderung eines Massenopfers des Bürgertums zugunsten der arbeitenden Klassen und das nämlich deutet Johannes Müller in seinem Aufsatz Weltenwende als Pflicht der bürgerlichen Kreise an. In der 'Freiheit‘ aber forderte er vor nicht zu langer Zeit F. Albert Fischer, ein Mitglied der K.P.D.: „Arbeiter, die eine kommunistische Überzeugung haben, müssen von ihren Vertretern verlangen, daß sie mitarbeiten an der Errichtung der wahrhaftigen Internationale, die nicht in Bern und nicht in Amsterdam, auch nicht in Moskau ist, sondern die im Herzen des arbeitenden Volkes und in der Gesinnung jedes einzelnen klassenbewußten Proletariats begründet und verankert liegt.“ In einer kleinen Schrift Christus ist da! aber heißt es am Schluß geradezu: „Die Zeit ist erfüllet, das Reich der Liebe Christi hat seinen Einzug gehalten“. Und in einer anderen Schrift Im Morgenrot der neuen Zeit, ein Brief an die Kinder des Lichts wird das Jahr 1921 als der „Sonnenmai“, die „Blüte- und Auferstehungszeit der Erde“ bezeichnet, „wo Satan gebunden ist“. In diesem Zusammenhange ist es bemerkenswert, daß von einer der kommunistischen Partei nahestehenden Seite die Errichtung von Andachtshäusern, „Häusern des Friedens“, in allen Ländern geplant ist. Angeblich sollen aus Beiträgen hauptsächlich der unabhängig und kommunistisch gerichteten Arbeiterschaft zwei Millionen für den Bau eines derartigen Hauses in Berlin zusammengekommen sein.

Welche der verschiedenen die Massen um- und durcheinanderwirbelnden Kräfte schließlich die Oberhand behalten und wohin sie dieselben Massen treiben wird, ist nicht abzusehen. Es fehlt an einer zusammenfassenden Idee, wie diese beim Ausbruch des Krieges und in anderer Weise vor dem Zusammenbruch der alten Gewalten vorhanden war. Das Bild, das sich im Augenblick zeigt, ist das eines Zersetzungsprozesses, der immer weiter um sich greift. Das anarchistische Element in dem Gedanken der Selbstbestimmung hat in weitestem Maße seine Schuldigkeit getan. Hoffentlich tut es auch das aufbauende, das in ihm liegt.

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