Christopher-Street-Day '90: Mit Tunten und Trompeten

■ Schwule und Lesben feierten den Christopher-Street-Day diesmal in der mittelhessischen Provinz

Marburg (taz) - Die Spitzen der altehrwürdigen Elisabethkirche ragen gotisch in den Nieselhimmel, am Hauptportal baumelt lustlos ein Transparent mit der Aufschrift „Sende dein Licht“. Kirchentagsbesucher, markiert durch pastellfarbene Schals und Stadtpläne, spazieren über den Vorplatz und planen ihr Programm. Samstagvormittagseinkaufsstimmung auf der gegenüberliegenden Straße.

Plötzlich gerät Bewegung in die Szenerie: Samba-Rhythmen, Pfeifen, Rasseln und Gejohle ist zu hören, wird lauter und um die Straßenecke biegt ein anschwellender Haufen lärmender, singender und knallbunter Leute. Der eben noch unbelebte Platz quillt nun über von Transparenten, die Kinder am Straßenrand haben auf einmal Luftballons in den Händen, auf denen peinlich berührte Eltern lesen: „Wenn ich groß bin, werd‘ ich lesbisch.“ Dazwischen stöckeln langbeinige Schwule in hautengen Glitzerfummeln herum und verteilen Flugblätter.

Daß der Christopher Street-Day als traditioneller Termin für Schwule und Lesben ausgerechnet in der mittelhessischen Provinz begangen wurde, um auf die Straße zu gehen und gegen bestehende Repressionen zu demonstrieren, war beabsichtigt. Der Veranstaltungsort sollte ein bestehendes kulturelles Stadt-Land-Gefälle dokumentieren. Für Gerhard Härle, Dozent an der Siegener Uni, lautet das Gebot der Stunde „die Provinz aus ihrem Dornröschenschlaf wachküssen“ und „gerade hier Freiräume erobern“.

Daß trotz acht veranstaltender und 37 unterstützender Gruppen von Kiel bis Berlin nur knapp 600 TeilnehmerInnen angereist waren, ließ manche Auswärtige enttäuscht maulen. Zumal der gleichzeitig stattfindende Landeskirchentag von Kurhessen-Waldeck rund 15.000 BesucherInnen gezogen hatte. Die allerdings machten lange nicht so viel Lärm und boten die willkommene Gelegenheit, entlang der Demo-Route immer wieder die Position der Kirchen zur Homosexualität anzuprangern. So verteilte die Marburger Fachschaft Evangelische Theologie Unterschriftenlisten und Resolutionen, in denen sie die Landeskirche aufforderte, homosexuelle Beziehungen gemischtgeschlechtlichen gleichzustellen.

Im Rahmen der Abschlußkundgebung wiesen die Veranstalter mit Tunten und Trompeten, das umherstehende Kirchentagspublikum auf die Geschichte des Christopher -Street-Day hin - der Ursprung liegt in den Folgen einer Razzia in der New Yorker Schwulenbar „Stonewall“. „Zum ersten Mal benutzten sie ihre Handtäschchen nicht nur zur Aufbewahrung von Puder- und Lippenstift, sondern wehrten sich gegen Demütigungen und Schikane“, erklärte Gerhard Härle den Marburger Passanten.

Antje Friedrich