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Wir brauchen die volle Wahrheit

Die sowjetische Bürgerrechtlerin Jelena Bonner äußert sich zu Ausländerfeindlichkeit und Antisemitismus in der Sowjetunion  ■ D O K U M E N T A T I O N

Die Mehrheit der sowjetischen Bevölkerung sei vom Antisemitismus nicht infiziert und unterstütze auch keine nationalistischen Bewegungen - zu diesen Umfrageergebnissen kamen sowjetische und ausländische Soziologen. Nach Angaben von ZWIOM (Unionsgruppe zur Erforschung der öffentlichen Meinung) äußerten nur ein bis zwei Prozent der Bevölkerung Sympathie für die „PAMJAT„-Bewegung. Ob man das Problem des Antisemitismus deshalb als nicht aktuell für die Sowjetunion einstufen könne, wollte die sowjetische Nachrichtenagentur 'nowosti‘ ('apn‘) wissen. Auf die Fragen des 'apn' -Korrespondenten Sergej Saizew antwortete die bekannte sowjetische Bürgerrechtlerin Jelena Bonner, deren Meinung nicht - wie 'nowosti‘ ausdrücklich vermerkt - „in allen Punkten mit der Position von 'apn‘ übereinstimmt“.

Sergej Saizew: In der Auslandspresse wurde zuletzt viel über den wachsenden Antisemitismus in der UdSSR berichtet. Ist das gerechtfertigt?

Jelena Bonner: Den Zuwachs der antisemitischen Stimmungen genau zu bestimmen, ist sehr schwierig. Es hat sie in unserem Land schon immer gegeben, es gibt sie heute, und es wird sie aller Wahrscheinlichkeit nach auch in Zukunft geben. Aber heute verändert sich der Antisemitismus nicht in quantitativer, sondern in qualitativer Hinsicht. Mich zum Beispiel beunruhigt sehr die Entstehung und Entwicklung einer „nationalsozialistischen Ideologie“ in unserem Land. Ich empfinde die Gesellschaft „PAMJAT“ und andere „aggressiv-patriotischen“ Bewegungen nicht als Ausdruck eines allgemeinen Antisemitismus. Ich betrachte all dies vielmehr als Resultat ganz bestimmter, organisierter Aktivitäten von Menschen, die die schwierige Situation im Land ausnutzen. Aus der Geschichte wissen wir, daß der Nationalsozialismus seine Position gerade in einer Zeit der politischen und wirtschaftlichen Krise festigen konnte. Deshalb beunruhigt es mich sehr, daß den antisemitischen Äußerungen von „PAMJAT“ nicht einmal von den politischen Führungskreisen energisch Einhalt geboten wird.

Kann man davon ausgehen, daß „PAMJAT“ und ihr ähnliche Bewegungen sich wachsender Unterstützung erfreuen?

Einerseits freut es mich, daß bei den Wahlen in die Sowjets auf lokaler und auf Republik-Ebene „PAMJAT“ und ihr geistig nahe stehende Organisationen praktisch keine Unterstützung durch die Wähler erhalten haben. Hierbei muß man jedoch auch daran erinnern, daß es seinerzeit nur ein Haufen von Bürschlein war, der sich im Münchener Bürgerbräukeller um Hitler versammelt, zunächst also keine große Anzahl von Anhängern angezogen hatte.

Der Antisemitismus ist eine beunruhigende Erscheinung und darf keinesfalls unterschätzt werden. Daß sich das Staatsoberhaupt noch nie direkt zu diesem Problem geäußert hat, ärgert mich.

Und wie reagieren die örtlichen Behörden?

In einigen Gebieten ist außer passiver auch aktive Unterstützung durch die jeweilige politische Führung und die Massenmedien zu beobachten. Die antijüdische Propaganda von „PAMJAT“ und ähnlicher Gruppen wird einfach zugelassen. Man begreift leicht, daß die Suche nach einem Feindbild im ideologischen Sinne für jede beliebige Führung günstig ist, wenn sie sich von der Verantwortung für einen allgemeinen Niedergang befreien will. Dies gilt besonders in Zeiten, in denen das Volk den Gürtel enger schnallen muß. Eine solche Ideologie ist aber beleidigend, und sie ist gleichzeitig auch aggressiv.

Allem Anschein nach ist das Problem aber doch wesentlich umfassender und komplizierter, es ist also nicht allein der Antisemitismus...

Natürlich ist das Problem nicht nur der Antisemitismus. Wenn man zum Beispiel vom Aggressivitätszuwachs im Hinblick auf Personen anderer Nationalitäten spricht, so zeigen Umfrage-Ergebnisse eine Zunahme antiarmenischer Stimmungen in Rußland. Dies wird mit dem Zustrom von Flüchtlingen in Verbindung gebracht, obwohl zum Beispiel von den 60.000 Flüchtlingen in Moskau und Umgebung nur ein Drittel Armenier ist. Das Problem verschärft sich also, und meiner Ansicht nach tragen Regierung und Presse einen erheblichen Teil der Schuld, weil sie noch immer nicht die volle Wahrheit darüber sagen, wie die Konfliktsituation im Kaukasus eigentlich entstand und eskalierte.

Leider kann oder will die politische Führung bei uns im Land die nationalen Konflikte nicht auf parlamentarischem Weg lösen...Einem Erstkläßler, der einen Fehler in seinem Heft macht, kann man das verzeihen. Aber der Führung eines Landes mit einer Bevölkerung von fast dreihundert Millionen Menschen darf das nicht nachgesehen werden. Allerdings liegt das Problem nicht allein bei der politischen Führung. Wir brauchen auch eine neue Verfassung, und wir brauchen eine Gesetzgebung, die das Anheizen von zwischennationalen Konflikten bestraft. Solange dies nicht geschieht, wird sich die Situation nicht verbessern, und zwischennationale Konflitke mit ihren Folgen sind unvermeidbar: Pogrome, Ströme von Umsiedlern und Flüchtlingen.

In der DDR-Presse wird von sowjetischen Juden berichtet, die sich in einem Berliner Flüchtlingslager befinden...

Das ist für mich eine völlig neue Information. Ich weiß nicht, weshalb sich in jenem Lager sowjetische Juden befinden. Wenn sie nicht in der UdSSR leben wollen, warum haben sie dann keinen Antrag auf Ausreise gestellt und sind direkt von hier abgereist...

Übrigens: der Begriff „Flüchtling“ ist ziemlich kompliziert. Ich beschäftige mich mit diesem Problem und habe mich zum Beispiel mit armenischen Flüchtlingen in der ständigen Vertretung Armeniens in Moskau getroffen und auch in den Schulen, in denen sie untergebracht sind. Diese Menschen - darunter auch Frauen, Alte und Kinder - kamen hierher, um sich vor dem Tod zu retten. Monatelang schliefen sie auf nackten Fußböden, es gab für sie keinen Wohnraum...

Was die sowjetischen Juden in Berlin betrifft, so ist es durchaus möglich, daß sie von der Angst um ihr Leben getrieben werden. Auf jeden Fall ist das Flüchtlingsproblem für die UdSSR heute nicht nur ein Problem der Juden.

Ist es richtig, eine Parallele zwischen den antijüdischen Stimmungen in der UdSSR und den jüdischen Pogromen im faschistischen Deutschland herzustellen, wie dies in ein einigen Publikationen der DDR-Presse geschieht?

Ich möchte das weder herunterspielen noch übertreiben. Jüdische Pogrome hat es in der UdSSR (die seit 1917 besteht

-im früheren Rußland gab es allerdings antijüdische Pogrome, d.Red.) nie gegeben. Es hat Pogrome gegen Türken/Mecheten gegeben, gegen Armenier und Aserbaidschaner. Kürzlich flammte in Frankreich Antisemitismus auf. In den USA hat es antijüdische Orgien gegeben, als Tausende junger Burschen sich in einem Anfall von Besessenheit in Städten versammelten und antisemitische Lieder sangen. Antijüdische Stimmungen gibt es leider in der ganzen Welt, und frei von ihnen ist wohl nur ein Staat, Israel.

Haben Sie persönlich einmal erlebt, was Antisemitismus bedeutet?

Ich wußte immer, daß ich Jüdin bin und daß das gegen mich gerichtet werden kann. Aber ich habe mich stets gewehrt und tue es auch jetzt noch. Ich brauche keinen gesellschaftlichen Schutz.

Sich zu wehren, löst allerdings nicht immer die Konflikte. Außerdem verfügen nicht alle über soviel Entschlossenheit...

In diesem Punkt möchte ich keine Ratschläge geben. Man muß jedoch berücksichtigen, daß das Gefühl der Angst bei den Juden vor allem durch ihre Geschichte bedingt ist. Ein Volk, das die Tragödien des Zweiten Weltkriegs, Konzentrationslager und Gasöfen erlebt hat, hat das Recht auf ein besonderes geschichtliches Gedächtnis. Genauso wenig dürfen wir den Genozid an den Armeniern von 1915 vergessen. Das war die erste Massenvernichtung von Menschen einer bestimmten Nationalität im 20. Jahrhundert. Und die Tatsache, daß die Weltöffentlichkeit dieses Verbrechen damals nur sehr unzureichend verurteilt hat, hat in gewisser Weise den Weg zum Völkermord an den Juden während des Zweiten Weltkrieges geöffnet.

Wenn bei sowjetischen Juden oder Armeniern das Gefühl der Angst um ihre Zukunft auftaucht, dann muß man ihnen einfach die Ausreise ermöglichen.

Interview: 'nowosti‘

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