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Das Ei ist hin, es lebe das Kücken

Die Auflösung des Bürgerkomitees in Warschau  ■ K O M M E N T A R E

Auch wenn einige bis zuletzt versuchten, die Spaltung aufzuhalten und ein erneutes Treffen in einem Monat durchsetzten: Diese Spaltung ist nicht aufzuhalten, und sie ist sogar natürlich. Die eine Gruppe schließt sich Walesas Konzeption einer „Beschleunigung der Reform“ an und sieht das Komitee als Opposition zur Regierung Mazowiecki. Die andere Gruppe will eine Stütze schaffen für diese Regierung durch eine Art Föderation der einzelnen unabhängigen regionalen Bürgerkomitees. Die „Beschleuniger“ werfen ihren Gegnern vor, mit Hilfe der Komitees ein neues Monopol schaffen zu wollen; die „Bremser“ halten entgegen, „Beschleunigung“ bedeute Destabilisierung und Unsicherheit. Die einen sehen Walesa, die anderen Mazowiecki als Präsidenten. Beide Gruppen sind auf der Suche nach einer gesellschaftlichen Basis.

Walesa empfing vor einigen Tagen die Parteiführer der Demokratischen Partei (SD) und der Polnischen Bauernpartei (PSL). Es hat den Anschein, als suche Walesa neue Partner für seine Kandidatur. Er will von diesem Sejm gewählt werden, in dem Solidarnosc keine Mehrheit hat.

Die „Centrum„-Gruppe allein, die von manchen bereits eine Präsidentschaftspartei genannt wird, reicht kaum aus, Walesa eine entsprechende Mehrheit zu sichern. PSL und SD wiederum, im Volk immer noch als Ex-Anhängsel der PVAP verschrieen, könnten mit Walesa als Aushängeschild ihre Chancen bei den nächsten Parlamentswahlen entscheidend erhöhen.

Bekämpft wird dieses Geschäft auf Gegenseitigkeit einstweilen von vielen jener Solidarnosc-Berater (Geremek, Michnik, Kuron), die jetzt im Parlament und in den Massenmedien bedeutenden Einfluß auf die öffentliche Meinung nehmen und sich der Regierung Mazowiecki verschrieben haben. Dabei braucht die Regierung Mazowiecki in der Tat beides: Unterstützung und Opposition. Unterstützung, um ihr Wirtschaftsprogramm durchzuziehen und das Land stabil zu halten. Andererseits: Momentan drängt niemand die Regierung, treibt sie vorwärts. Ein - eher unbestimmter gesellschaftlicher Druck ist allenthalben spürbar, der sich von Zeit zu Zeit in wilden Streiks und Blockaden Luft verschafft und den selbst Walesa nicht mehr wirklich unter Kontrolle hat. Eine glaubwürdige Opposition ist daher dringend nötig. Was jetzt in Polen geschieht, ist nichts wirklich Beunruhigendes. Zbigniew Romaszewski: „Wir haben zusammen ein Ei ausgebrütet, und nun ist das Kücken, die Demokratie, rausgekommen. Es hat keinen Sinn, zu versuchen, die Schalen wieder zusammenzukleben.“ Polens Opposition hat in den letzten zehn Jahren stets Toleranz, Mäßigung und Realitätssinn bewiesen. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, weshalb sie diese Tugenden nun aufgeben sollte.

Klaus Bachmann

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