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Bittere Ironie der Geschichte

Jahrelang kämpfte eine Familie gegen Nutzung ihrer Anschrift durch das Ministerium für Staatssicherheit / Im Frühjahr war sie nur scheinbar erfolgreich / Die Liste der Stasi-Objekte enthüllt, daß die Änderungen in der örtlichen Adressenliste nicht an das Staatliche Komitee zur Stasi-Auflösung weitergeleitet wurden  ■  Aus Wandlitz Petra Bornhöft

Übersiedler Erhard Szantho (43) traute seinen Augen nicht: In der Liste der ehemaligen Stasi-Objekte steht sein Wochenendhaus in der Wandlitzer Rheinallee 6 als „Dienstobjekt“ des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS). „Das kann doch wohl nicht wahr sein“, schimpfte er, „jahrelang haben wir dagegen gekämpft, daß die Stasi-Leute auf dem Nachbargrundstück unsere Anschrift benutzten, dann haben die das im Frühjahr geändert. Aber jetzt steht nicht deren Haus, sondern unseres in der Liste“. In der Tat eine merkwürdige Geschichte, „von der ich ohne die Veröffentlichung wohl nie erfahren hätte“ meint Szantho, nachdem er den Irrtum aufgeklärt hat.

Vor etwa fünf Jahren, das Nachbarhaus an der Bingerstraße 10 im Wald vor dem Wandlitzsee hatte einige Zeit leergestanden, renovierten Handwerker das Anwesen für zwei Familien. In den vier neuen Garagen parkten fortan große Staatskarossen. Erhard Szantho bekam plötzlich keine Post mehr: die Stasi-Nachbarn hatten der Postfrau gesagt, sie solle alle Briefe für die Rheinallee bei ihnen einwerfen. Von Szantho zur Rede gestellt, antworteten die MfS -Angestellten: „Dies ist eine Dienstwohnung. Der Betrieb hat uns einen Mietvertrag auf Rheinallee 6 ausgestellt“. Welcher „Betrieb“ gemeint war, konnte sich Szantho denken, liegt doch die Wandlitzer SED-Siedlung gleich um die Ecke.

Szantho wehrte sich gegen den Mißbrauch seiner Anschrift. Bei der Gemeinde verlangte er Auskunft und eine Klarstellung des Anschriftentausches. Jahrelang vergeblich. Immer wieder abgewimmelt, versuchte er es zuletzt im Januar 1990. Urplötzlich wußte die gleiche, ewig ahnungslose Angestellte: „Ach sie meinen das Dienstobjekt der Wandlitz-Siedlung“. Sie versprach eine Änderung in der Meldekartei vorzunehmen. Drei Monate später verschwand immerhin die falsche Hausnummer.

Nicht getilgt wurde das „Mißverständnis“ aus den Unterlagen der Wandlitz-Siedlung. Deren bis heute amtierender Verwaltungschef Costrau meldete die Rheinallee 6 als „Dienstobjekt“ der Gemeinde. Die korrigierte den Zettel handschriftlich um in „Bingerstraße 10/12“. Damit, so der heutige Bürgermeister Reinhold Dellmann (SPD) „sahen wir den Fall als erledigt an“. Merkwürdig nur, daß diese Nachricht bislang offenbar weder beim Staatlichen Komitee zur Auflösung der Stasi noch beim Bürgerkomitee in der Berliner Normannenstraße angekommen ist. Beide Institutionen bestätigten Erhard Szantho am Montag, daß sein Wochenendhaus und nicht die richtige Stasi-Adresse nach wie vor in ihren Listen stehe - und das obwohl die Gemeinde Wandlitz bereits am 15. Juni ihren neuesten Erkenntnisstand aufgelistet hat. Demzufolge gab es in dem Örtchen nicht nur - wie bisher bekannt - 49, sondern 70 Stasi-Liegenschaften.

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