: Pisse, Schnaps und Desinfektion
Erster Intershop öffnete 1962 / Ein buntes Völkchen nimmt leise von ihm Abschied / Verkäuferinnen wissen nicht, was aus ihnen wird / Der S-Bahnhof Friedrichstraße beendet sein Doppelleben / Nur die Klofrau wird bleiben ■ Aus Berlin Claudia Haas
Fast 28 Jahre lang kam Norbert K. (52), Sozialhilfeempfänger aus West-Berlin, mit der ersten S-Bahn am Bahnhof Friedrichstraße an. Sein Tagesablauf war klar strukturiert: Er richtete sich nach den Öffnungszeiten der Intershops. 1962 wurde der Grenzübergang und mit ihm der erste Intershop eröffnet. Auf zehn Jahre schätzt Norbert K. die Zeit, die er seitdem auf den Bahnsteigen des Grenzbahnhofs zugebracht hat. Abends setzten ihn die Grenzer in die letzte S-Bahn in Richtung Zoo, doch pünktlich um 4.45 Uhr am nächsten Morgen war er wieder da. Der Intershop auf Bahnsteig B hatte dann bereits geöffnet, die ersten Transitreisenden wurden mit Zigaretten und Kaffee versorgt, die Penner kauften sich die erste Flasche „Rundholz“ oder „Kantholz“: billigen Klaren, die Falsche für 3,90 DM bzw. 4,90 DM. Doch spätestens im Mai wurden auch die Dauergäste im Bahnhof Friedrichstraße von der Wende eingeholt. Der „Ostdiesel“ wurde aus dem Sortiment der Intershops gestrichen, viele Penner sind wieder in den Westen und zum „Bauerntrunk“ von Aldi zurückgekehrt. Norbert K. kommt immer noch, „irgendwie hat man sich an den Bahnhof gewöhnt“.
Auch früheren Bahnhofsbewohnern fällt der Abschied schwer. Hans M., „fünfzehn Jahre gesoffen, seit sieben Jahren trocken“, hält täglich auf dem Weg zur Arbeit am Kaffeeausschank zwischen Bahnsteig A und B. Er kennt sie alle. Verkäuferinnen, Grenzer und die Dauergäste aus West -Berlin teilten sich jahrelang die gekachelten Gänge und den beißenden Geruch von Pisse, Schnaps und Desinfektionsmittel. Jetzt darf gegrüßt werde, Miteinanderreden ist nicht mehr strafbar, plötzlich sind sich alle ein bißchen nähergerückt: die große Unsicherheit vereint.
Die Intershop-Verkäuferin Sigrid G. hat jahrelang unter den Augen der Stasi Kaffe aufgebrüht und Zigaretten verkauft. Jetzt sind die Kameras und die durchlässigen Spiegel abmontiert, doch auch ihr Arbeitsplatz steht nicht mehr lange. Die Regale des Intershops sind fast leer, am Wochenende wird Inventur gemacht. Wo sie am Montag arbeiten werden, wissen die meisten der über hundert Verkäuferinnen noch nicht. Ihr Arbeitgeber „Mitropa“ hat vorsorglich neue Verträge abgeschlossen, mit einer Kündigungsfrist von drei Wochen. Der Unmut unter den Verkäuferinnen ist groß. Millionen von Zigarettenstangen, Schnapsflaschen und D-Mark gingen durch ihre Hände. Jahrelang gehörten sie zu den Auserwählten im Staat, die die saubersten Personalakten hatten und die Kassen Schalck-Golodkowskis mit Devisen auffüllen durften. Die, die Glück haben, können als Kioskverkäuferinnen bleiben, die ersten sind bereits beim Lehrgang bei der Westberliner Bahnhofshallengesellschaft.
Doch die meisten wollen sich nicht mit dem plötzlichen Statusverlust abfinden. Gertrud D. arbeitet seit 16 Jahren „unter Tage“. Ihre besten Jahre habe sie hier gelassen, wie sie bitter resümiert. Von unzufriedenen Kunden mußte sie sich beschimpfen lassen und über die Penner hinwegsteigen, die vor dem Kiosk ihren Rausch ausschliefen. Das Panzerglas schützte zwar vor Tätlichkeiten, nicht aber vor Beleidigungen. Nach der Wende sei es besonders schlimm geworden. Da kamen die DDR-Bürger, um späte Rache zu üben. „Stasi-Tanten“ gehörte zu den harmlosen Beschimpfungen, der Weg von der Verkaufsstelle zum Pausenraum wurde oft zum Spießrutenlauf.
Die elf Intershops prägten die Atmosphäre im Grenzbahnhof. Zigaretten, Alkohol und Kaffee, mehr Service gab es nicht für die Reisenden. Im Warteraum stehen zerschlissene Holzbänke, für die einzige Toilette muß 0,40 DM bezahlt werden, einziges Mobiliar der Abfertigungshalle sind zwei Fotofix-Kabinen ohne Spiegel und Vorhänge. Kein Informationsschalter, kein Cafe, kein Zeitungskiosk, kein Wasserhahn. Die einzigen Hinweisschilder an den gekachelten Wänden zeigen den Weg zu den Intershops. Jetzt schieben sich täglich 500.000 bis 600.0000 Reisende durch die verwinkelten Gänge des Bahnhofs, Orientierungsschwierigkeiten haben vor allem die Reisenden, die mit den Fernzügen ankommen. Die Toilettenfrau zwischen dem Fernbahnsteig und Bahnsteig B ist zugleich die erste Adresse für Fahrplanauskünfte und soziale Probleme, füllt Wasserflaschen auf und teilt auch mal ihr Butterbrot. „Die meisten sind Durchreisende vom Ostbahnhof und haben keinen Pfennig Westgeld. Bisher habe ich alle nach Marienfelde oder nach Gießen geschickt. Was ich denen am Montag sagen soll, weiß ich auch noch nicht.“ Um ihren Arbeitsplatz macht sie sich keine Sorgen, der bleibt bestimmt.
Eine Treppe tiefer können die Grenzer zusehen, wie ihre alte Arbeitsstätte vor ihren Augen verschwindet. Die Abfertigungsschalter, die in der früheren Bahnhofshalle standen, sind bereits zusammengeklappt, Spiegel und Röntgengeräte abmontiert. Die 400 Grenzer haben ihren Dienst getan, einer überlegt, ob er sich beim Andenkenshop bewerben sollte, um den Touristen Souvenirstempel in den Paß zu drücken. Auch die Reinigungstrupps haben ihre Besenkammer schon leergeräumt und versprühen die letzten Desinfektionswolken. Ab Montag wird eine neue Firma gegen den Mief der Vergangenheit ankämpfen, der sich in den Kacheln festgesetzt hat. Der Traditionsbahnhof soll wieder so werden, wie ihn die alten BerlinerInnen kennen; ein schmucker Bahnhof, an dem sich die Reisenden gerne aufhalten und wo sie die Wartezeit beim Friseur oder im Restaurant verbringen können. Auch als Einkaufsziel soll er erhalten bleiben, geplant ist eine Ladenpassage in der Bahnhofshalle. Am Wochenende wird eine weitere Mauer fallen, die 28 Jahre lang Ost und West getrennt hat: den Bahnsteig B (Endstation für die Züge aus Richtung Wannsee) und den Bahnsteig C, auf dem die Züge vom Alex ankamen.
Am 2. Juli um 3.30 Uhr ist das Doppelleben des Bahnhofs zu Ende. Dann fährt der Zug Erkner-Wannsee auf dem Bahnsteig C ein, neun Bahnen pro Stunde werden den wiedervereinten Schienenstrang passieren. Eine Frage der Reisenden im ehemaligen Grenzbahnhof Friedrichstraße hat sich bald erübrigt: ob sie denn nun im Westen oder im Osten seien.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen