ANGSTSCHEIBCHEN

■ Als es noch Doppelfußbäder gab...

Bitte öffnen Sie Ihre Tasche, sagte die Dame in Braun mit dem gleichmäßig gerollten Haarkamm. Cora öffnete die Tasche und zog Pulax hervor, Kräutertee, Doppelfußbad aus der Schmerz-laß-nach-Fabrik und Igor Oistrach mit dem Großen Rundfunk-Sinfonieorchester der UdSSR, das hatte ihr Levy geschenkt. Fichtennadelöl und Mahlers Dritte und Benjamins ausgewählte Schriften und das Cafe an der Straße zum Friedhof von Ota Filip. Lebensmittelausfuhr ist bei uns verboten. Cora blickte auf die Haartolle unter dem braunen Hut. Das Buch, sie zeigte auf das Cafe an der Straße zum Friedhof, hatte ich schon bei der Einreise dabei. Drucksacheneinfuhr ist ebenfalls verboten. Die Dame mit dem gleichmäßig gerollten Haarkamm blätterte durch das Buch. Sie verschwand hinter einem braunen Vorhang. Fünf nach zwei zeigte die Uhr über den Türen. Also wäre die letzte S-Bahn gefahren. Der Mann, mit dem sie gerade den Fußboden abgesucht hatte, hatte sie noch gekriegt.

Ich habe eine Kontaktlinse verloren, hatte er stoisch an sich gehalten und den Korridor vor dem Kontrollhäuschen mit dem sehenden Auge gestreift. Ich helfe Ihnen beim Suchen, hatte Cora gesagt, hatte sich auf die Knie niedergelassen und eine Gesichtsseite auf den Estrich gelegt, um die winzige Glaskrümmung auf der Fußbodenfläche zu finden. Sie können doch nicht den Durchgang blockieren, sagte die Dame, und ihre Haartolle ging auf und ab. Auf Zehenspitzen trippelten zurückkehrende Ostbesucher über Cora hinweg, den Durchgang mit Blicken fegend und die Münder zum Rechteck gespannt. Als mir der Grenzer ins Auge blickte, sprang sie heraus, der junge Mann hob die Arme, seine Ellbogen in der Luft aufgehängt.

Die Dame in Braun schlug den Vorhang zurück. Zwei Schallplatten haben Sie also gekauft. Sie nahm sie mit spitzen Fingern und klappte sie wie Brustflügel auf und zu. Eine habe ich gekauft und eine geschenkt bekommen. Soso, von wem denn geschenkt? Von einem Freund. Auf dem Einreisezettel steht aber kein Freund. Den hab‘ ich auf der Straße getroffen. Den Freund auf der Straße getroffen, ach, sieh einer an, und er hatte gleich den Oistrach bei sich? Packen Sie alles ein. Für heute laß ich Sie gehen. Ich will Sie nicht noch einmal sehn.

Cora warf Fulax und Doppelfußbad und Fichtennadelöl in die Tasche und rannte mit dem Rest unterm Arm los und sprang in die letzte S-Bahn in dem Augenblick, als sie die Türen schloß. Da wurde sie von einem riesigen Kameraauge gefangen, eine Stimme tönte dahinter hervor: Haben Sie keine Angst, so spät in der letzten S-Bahn allein nach Hause zu fahrn? Cora sagte nein, wieso Angst? Bin froh, daß ich hier bin, ist doch alles okay, und sie dachte an die Dame mit dem braunen Käppi und der spitzen Brust unter dem steifen Kostüm.

Hab‘ Sie im Fernsehn gesehen, sagte ein Nachbar am folgenden Tag. Wieso Angst, ist doch alles prima, haben Sie gesagt und ganz verdattert geguckt.

Michaela Ott