: Angst vor der Demokratie
Die Sperrklausel ist von der Geschichte überholt ■ K O M M E N T A R E
Die hitzige Debatte über die Höhe der Sperrklausel, die auf dem Gebiet der DDR für gesamtdeutsche Wahlen gelten soll, ist von allen Beteiligten ausschließlich von taktischen Überlegungen bestimmt. Die CSU tritt für die Dreiprozenthürde ein, weil sie hofft, ihren gebrechlichen Ableger DSU damit leichter in ein gesamtdeutsches Parlament hieven zu können. Die Sozialdemokraten dagegen gehen für die bundesdeutsche Fünfprozentregelung auf die Barrikade, weil sie die gesamtdeutsche Konkurrenz der PDS fürchten. Bei einer Fünfprozentklausel müßte die SED-Nachfolgepartei nämlich in der DDR fast 24 Prozent erhalten, um auch im gesamtdeutschen Parlament vertreten zu sein - was wohl selbst die PDS für unrealistisch ansieht. Nicht wenige Sozialdemokraten spekulieren auch darauf, den Grünen auf diese Weise parlamentarisch den Garaus zu machen.
Das Gerangel um die Sperrhürde aber kommt nicht von ungefähr. Sie setzt das undemokratische Vorgehen fort, das schon beim Staatsvertrag praktiziert wurde - diesem Staatsstreich der Exekutive gegen ein machtloses Parlament. Die große Koalition von Christ- und Sozialdemokraten schnippelt sich ihre neue Republik nach alten Schnittmustern zurecht, und manches erinnert an Wehners fehlgeschlagenen Versuch vor 25 Jahren, die junge Republik ins Zweiparteienjoch zu zwängen.
Anzupassen wäre das Wahlgesetz an eine in vierzig Jahren gewachsene, selbstbewußte zivile Gesellschaft, statt weiterhin die Angst vor einem als unberechenbar eingestuften Volk zu konservieren. Ein Mehr an Demokratie aber liegt nicht im Interesse der großen Bonner Koalition. Unglaubwürdig wird eine SPD, die ansonsten stets einen Volksentscheid über den Vollzug der deutschen Einheit fordert, die aber mit Verfassungsklage droht, falls in der DDR die Dreiprozenthürde gelten soll. Mehr Demokratie wagen? Das trifft auf taube Ohren. Wenn - wie wohl abzusehen - die Hürden bleiben, wäre das grotesk: Die erste Bundestagswahl der von den Alliierten befreiten Westdeutschen kannte trotz Nazivergangenheit keine Sperrklausel - nach der DDR -Novemberrevolution auf deutschem Boden aber wird sie für unverzichtbar gehalten.
Gerd Nowakowski
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