Eine verfassungsrechtliche Zwickmühle

SPD droht mit Verfassungsklage, wenn in der DDR drei und in der BRD weiterhin fünf Prozent für den Einzug ins Parlament reichen  ■  Aus Bonn Ferdos Forudastan

Es ist der 9. Dezember, 18 Uhr 30. Vorläufige Ergebnisse der ersten gesamtdeutschen Wahl flimmern über die Bildschirme. Jubel bricht aus in der DSU-Parteizentrale in Ost-Berlin: 3,8 Prozent sagen die Umfragen voraus. Die Drei-Prozent -Hürde drüben ist genommen. Der Sprung ins gesamtdeutsche Parlament scheint geschafft. Bei den bundesdeutschen Republikanern in München werden die Gesichter immer länger: 3,1 Prozent aller WählerInnen in der Bundesrepublik haben für sie ihr Kreuz gemacht. Die Fünf-Prozent-Sperre hüben ist nicht genommen. Für einen Einzug in die Volksvertretung reicht dieses Ergebnis also nicht.

Ein Szenario, das bald Wirklichkeit werden könnte - dann nämlich, wenn sich die Regierungen der BRD und der DDR, die CDU/CSU hier und die CDU/DSU dort mit ihrem Plan für ein Wahlverfahren durchsetzen, der Verfassungsjuristen schon heute heftiges Kopfzerbrechen bereitet. Läuft es nämlich so, dann wählt die DDR mit einem Gesetz, nach dem eine Partei drei Prozent aller Stimmen erreichen muß. Diese würden überdies nicht auf das Bundesgebiet hochgerechnet, sondern auf DDR-Territorium begrenzt. Hierzulande gälte trotzdem auch für diesen Urnengang das Bundeswahlgesetz mit seiner Fünf-Prozent-Klausel. Erst nach der Wahl würde die DDR der Bundesrepublik beitreten.

„Ab 18 Uhr 2 ist Karslruhe zuständig.“ Mit donnernder Stimme hatte SPD-Chef Hans-Jochen Vogel am vergangenen Mittwoch angekündigt, was zwei ungleiche Regelungen für die gleiche Wahl nach sich ziehen würde: eine Beschwerde vor dem Verfassungsgericht in Karlsruhe. Nach der Wahl und dem Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes liegt es nämlich bei den Karlsruher Richtern zu prüfen, ob das erste gesamtdeutsche Parlament verfassungsgemäß zustandekommen ist.

Zum Gang nach Karlsruhe aufmachen könnte sich etwa eine Partei, die glaubt, benachteiligt gewesen zu sein. Es wäre aber auch ein einzelner Wähler berechtigt, Beschwerde einzulegen. Im Rücken hätte er den Artikel 38 I des Grundgesetzes. „Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in... gleicher... Wahl gewählt“, schreibt dieser unter anderem vor. „Die 3,1 Prozent meiner Partei hier haben für den Sprung ins Parlament nicht gereicht. Für die DSU waren 3,8 genug. Ergo betrifft die unterschiedliche Regelung mein Grundrecht auf Gleichheit der Wahl.“ So könnte sich etwa ein Republikaner-Wähler in Karlsruhe äußern. Und bis hier würden ihm die Richter vermutlich auch zustimmen. Für das Ergebnis entscheidend wäre allerdings die anschließende Frage in einer verfassungsrechtlichen Prüfung: Ist dieses Gleichheitsrecht nicht nur betroffen sondern auch verletzt?

„Ohne den geringsten Zweifel: Ja“. Das sagt Hans-Jochen Vogel, dies meint auch die SPD der DDR, und dies findet sogar die FDP. Jene, die zwei unterschiedliche Sperrklauseln befürworten, werden sich auf das einzige Schlupfloch stürzen müssen, das die Verfassung läßt. Ungleich behandeln darf der Staat nämlich dann, wenn dies eine „höherrangige Verfassungsbestimmung“, als sie der Grundsatz der Gleichheit ist, gebietet. Diese „höherrangige Verfassungsbestimmung“ ziehen regierungsnahe Verfassungsrechtler aus der Präambel des Grundgesetzes - genauer, aus dem dort festgeschriebenen „Gebot der Einheit“. Und um die Einheit zu erreichen, muß, etwa nach Ansicht des Staatsrechtslehrers Rupert Scholz, der unterschiedlichen Parteienstruktur in der DDR Rechnung getragen werden. Dies geht nach Scholzens Ansicht nur, wenn man auf die Fünf-Prozent-Klausel in der DDR verzichtet.

Daß Karlsruhe einer solchen Argumentation folgen und die Verfassungsbeschwerde abweisen würde, ist leicht vorstellbar - schon wegen der ganz realen Folgen, die es hätte, wenn sie dem Kläger Recht geben würden: Weil das Parlament dann nicht verfassungsmäßig zustandegekommen wäre, müßte neu gewählt werden.

„Verfassungsrechtlich unhaltbar“, so urteilt Grünen -Vorstandssprecher Willi Hoss über das Vorhaben der Rechten. Allerdings möchte auch er „den am demokratischen Umbruch maßgeblich beteiligten Bürgerrechtsgruppen Chancen auf eine gesamtdeutsche Parlamentspräsenz“ eingeräumt sehen. Da dies nur mit einer Drei-Prozent-Klausel überhaubt denkbar scheint, fordert er, was inzwischen immer mehr Stimmen inner - und außerhalb der Grünen anmahnen: Die Drei-Prozent -Klausel drüben wie hüben. Durchsetzen wird sich dieser naheliegende Vorschlag kaum: CDU/CSU/DSU beharren auf drei und fünf Prozent. Sie wollen die DSU, und, um es der SPD schwer zu machen, die PDS ins gesamtdeutsche Parlament kriegen.