: Polizeireviere, Kindermörder und Orgasmustraining
■ Bei SAT1 startet morgen eine neue Reportage-Reihe von Spiegel-TV
Sat1, gebeutelt durch den Streit der Gesellschafter Springer Verlag und Filmgroßhändler Leo Kirch, will sein Image aufbessern. Eine neue Sendung von Spiegel-TV soll dem privaten Fernsehsender ab morgen (3.Juli) zu mehr Seriosität verhelfen. Mit der halbstündigen Reportage auf dem für Qualität bürgenden späten Sendeplatz (22.45Uhr) will der Pistolero-Kanal seine ZuschauerInnen jeden Dienstag nach dem Spielfilm beglücken.
„Die von Sat1 haben bei uns angefragt, ob wir nicht auch was eigenes für sie was machen können“, sagte der verantwortliche Redakteur Thomas Schaefer während der Pressepräsentation des neuen Spiegel-Produkts. Bisher sendet Sat1 das Spiegel-TV-Magazin, wenn es bei RTL bereits gelaufen ist.
Auf das Sat1-Umfeld haben die Spiegel-TV-Leute bei der Themenwahl durchaus Rücksicht genommen: Nach der Serie Justitias kleine Fische und dem Mord und Totschlagfilm Ich will immer mit dir leben um ein junges Pärchen, das in einen Mordfall verwickelt wird, ist auch die Spiegel-TV -Reportage im Krimi-Milieu angesiedelt.
Das Polizeirevier Sao Paolo des freien Filmautors Ulrich Stein wird von den Machern so angekündigt, wie sie sich Zuschaueranreize fürs Sat1-Publikum vorstellen: “'Zieh die Bluse hoch! Laß den Rock runter! Bück dich!‘ Die Polizisten von Sao Paolo auf Transvestitenjagd. Eine andere Sreife hat einen fünfjährigen Jungen aufgegriffen, der kein Zuhause hat. Die Polizisten wissen, daß der Junge keine Chance hat. Einen Tag wird er auf der Wache durchgefüttert, dann kommt er in das berüchtigte Kinderlager Febem, das man nur als Toter oder Verbrecher wieder verläßt. Kreislauf in der 17-Millionen-Stadt, in der die Verbrechenszahlen in die Höhe schnellen: 5.500 Diebstähle, 465 bewaffnete Überfälle, 12 Morde - jeden Tag.“
Erstaunlich jedoch nach dieser Ankündigung: Die Dokumentation ist richtig gut. Autor Ulrich Stein, der selbst ein Jahr lang in Sao Paolo gelebt hat und sich deshalb dort auskennt, hat auf der Polizeiwache eine Woche lang gefilmt, aus dem Material einen Alltag zusammengestellt. Die Transvestiten, der kleine Junge, geschlagene Frauen, der Kindervergewaltiger und sein Opfer, ein kleines Mädchen, kleine Räuber und mittlere Drogenhändler - sie alle werden nicht bloß kurz vorgeführt, sondern sie schildern ihre, meist hoffnungslosen Schicksale in den Slums der größten Industriestadt der Welt.
Die folgenden Reportagen, die bewußt nicht tagesaktuell sein werden, sind überwiegend zu ähnlich gelagerten Themen: Geplant ist als zweite Sendung Die Geschichte des Kindermörders Lothar O., als fünfte die Polizeistation Cannes, als sechste ein Porträt über einen Mann in einer US-Todeszelle. Dazwischen auf Sendeplatz drei und vier Selbsterfahrungsgruppen mit Orgasmustraining und Männer und Frauen der 1.Stunde des DDR-Umbruchs: Wo sind sie geblieben?
Mehr RedakteurInnenstellen gibt es übrigens für die neue Sendung nicht: Die Reportagen sollen von freien AutorInnen und FilmemacherInnen gemacht werden.
Donata Riedel
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