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Kleine und kleinste Verrichtungen

■ „La station debout“ und „Le petit dictateur“ im Theater am Friedrichshain

Am Anfang steht jemand ohne Hosen und Schuhe da. Er ist Sansculotte, aber dieses Wort, wie viele andere auch, hat er vergessen und kann nicht sagen, was ihm fehlt, die Hosen, die Schuhe. Erbärmlich und jämmerlich ist der Schrei, wenn er bemerkt, daß etwas mangelt, ein Wort oder Ding, ohne daß auch nur die Idee einer Abhilfe sich anbietet.

Wie es beim Reden in einem Satz nicht weitergeht, wenn das nächste Wort fehlt, so kann auch eine einfache Verrichtung (sich die Schuhe anziehen) nicht ausgeführt werden, wenn die Erinnerungsvorschrift für die nächste Bewegung fehlt. Ein entsetzliches Stottern beherrscht alle Abläufe. Mit den Wörtern ist auch deren Ordnung verschwunden. Auch Bewegungen bestehen aus diskreten Einheiten.

Der Held von La station debout, seines Zeichens Professor, hat mit seinem Gedächtnis auch seinen aufrechten Gang verloren. Ohne Gedächtnis weiß er natürlich auch von der Ursache allen Mangels, daß er nämlich alles vergessen hat, nichts. Trotzdem wird er versuchen, sich an etwas zu erinnern. Aber er ist Franzose, und die Franzosen sind die, die Geschichte gemacht haben, sie sind philosophisch und technokratisch gleichzeitig. Sie wissen, daß zum aufrechten Gehen vor allem Schuhe nötig sind und daß sie selbst derart des Gedächtnisses beraubt, mindestens noch das verlorene Bewußtsein des Weltgeistes sind. Was nun als Stückwerk wiedergefundener Erinnerung den Stoff zu dieser Vorstellung hergibt, sind deshalb nicht die kleinen schmutzigen Szenen vom und vor dem frühkindlichen Spracherwerb, die Stimmen irgendwelcher „Einsager“ gemäß Peter Handke. Nichts weniger als die Geschichte der Evolution wird hier in einer Sequenz phantasmatischer Metamorphosen wiederholt. Das Gedächtnis funktioniert phylogenetisch, sein Inhalt ist die Geschichte des Lebens auf der Erde.

Der Professor gibt der Frau eine Vorstellung des unvorstellbar Kleinen, das man an Anfang war: Worte und Bewegungen rücken nur um die allerkleinsten Unterschied voneinander ab und voran. Bis die Frau, die an einem komplementären Defekt leidet - zu viele Worte schwirren ihr losgelöst durch den Kopf, sie ist „Taxinomistin“ -, so sehr von dieser Vorstellung besessen ist, daß sie mit fanatischer Kinderstimme nur noch „p'tit p'tit p'tit“ machen kann. Um die Vorstellung wieder loszuwerden, kreidet sie einen winzigen Punkt an eine Tafel, worauf aber der Professor, mit einem Rest alten Charmes, nur bemerken kann, es sei wunderschön gezeichnet, das ganz Kleine, aber eben viel zu groß.

Logisch, daß die Geschichte, nachdem man, vom Wasser aus einer umgeschütteten Karaffe ins Meer gespült, ein gepanzertes Schalentier gewesen ist, irgendwann bei den ganz großen Dinosauriern ankommt. Das herbeiphantasierte Ungeheuer füllt die ganze Filmbühne am Friedrichshain, der Professor durchrennt den Raum, gejagt von der Angst, seine Vorstellung nicht ganz einnehmen und immer nur an einer Stelle und immer nur ein Organ sein zu können. Weil es ein ödipales Verbot noch nicht gibt und nicht mehr Mama und Papa, gibt es keinen Grund, nicht in die Sache selbst, von der man redet, hineinzuschlüpfen.

Der weitere Fortschritt muß mit Hilfe kostbaren „wissenschaftlichen Materials“, das beispielsweise mit Projektoren auf die Leiber geschrieben wird, bewerkstelligt werden. Nach der langwierigen Menschwerdung kann es natürlich nicht aufhören, und es hört nicht auf: Am Ende der Geschichte ist der Professor Napoleon geworden und tritt das Erbe der Sansculotten an. Keinesfalls will er, den Aufforderungen des Versuchsleiters entsprechend, noch einmal von vorne anfangen. „Es ist nicht zu Ende nach dem Menschen.“ So gibt es keine richtigen Schluß. Nur langsam und mühsam zerrt irgend jemand den Vorhang zu vor den Erschöpften. Die Geschichte der Evolution wird deleuzianisch gewesen sein.

Die Arbeit der Gruppe mit dem technizistischen Namen „4 Litres 12“ strafte deshalb so überzeugend alle miesen Begriffe, die man vom pantomimischen Theater (da ist jemand und tapst an einer imaginären Wand herum usw.) haben kann, Lügen, weil die Aktionen nicht eine blöde Übersetzung von etwas sind, was man genausogut hätte mit dem Mund auch sagen können. Das Thema der defekten Sprache macht ideale Vorgaben. Die Pantomime umschreibt nicht irgendwas, das Worte viel schneller mitteilen würden, sie artikuliert genau die Not und Verzweiflung und Komik, die sich erst einstellen, wenn die brauchbaren Worte verloren sind. Eine Übersetzung in ein Sprechstück ist nicht mehr denkbar.

Diesen ganzen anderen Wust präsentiert ausgiebig das Stück Der kleine Diktator der Gruppe „Verrückter Engel“ („L'ange fou“). Wie man sich denken kann, handelt es sich dabei um ein Remake von Chaplins Der große Diktator, eingerichtet für mittelgroßes Tanztheater. Viele Leute kommen darin vor, aber die Szene bleibt von Kleinfamilienangehörigen und von mit Vatermördern kostümierten Kleinstädtern beherrscht. Der kleine Sohn initiiert sich selbst als kleiner Diktator, indem er eine Spielzeugpistole auf den Papa abfeuert und der Mama unter den Rock faßt. Sonst gibt es wenig signifikantes Material.

Mit Pappnase und ausgestopften Hosen feixt der Sohn nunmehr über die Bühne. Wenigstens bringt er, zur Darstellung von Gleichschritt und -schaltung, etwas Ordnung in das gezierte Gehabe des künstlerischen Volks. Ein Engel, frisch dem Ballett-Workshop mit rosa Flügeln entsprungen, hält ihn bei der Stange - tatsächlich muß er verrückt sein. Irgendwann kommt endlich die Nachricht vom Tod des Duce. Als aber gleich darauf ein Dementi seine Auferstehung verkündet, bietet sich Gelegenheit, im Jubel leichtfüßig die Arena zu fliehen.

Ralf Fiedler

Der kleine Diktator ist noch heute im Filmtheater am Friedrichshain, Bötzowstraße 1, 1055 Berlin zu sehen. Beginn 20 Uhr.

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