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In der Nato dominiert das Beharrungsvermögen

■ Der am Donnerstag in London beginnende Nato-Gipfel wird den Erwartungen der Sowjetunion kaum gerecht werden

„Ich fahre nicht mit irgendeinem dramatischen Vorschlag nach London, der radikal den Auftrag und die Mission der Nato ändert.“ US-Präsident Bush, der mit dieser Ankündigung die Spekulationen in der amerikanischen Presse dämpfte, hat sich in der Tat in seiner bisherigen Amtszeit noch zu keinen radikalen Veränderungen hinreißen lassen. Entsprechend dieser Linie geht es den USA in London auch vor allem um einen neuen „look“. Spannend wird der Gipfel allein deshalb, weil vor allem die Bundesdeutschen auf mehr als kosmetische Veränderungen drängen werden, damit Kanzler Kohl, wenn er Mitte Juli Gorbatschow im Kreml seine Aufwartung machen wird, endlich das sowjetische Ja-Wort für die deutsche Vereinigung mit nach Hause nehmen kann. Wichtigster Punkt für die Bundesdeutschen wird deshalb die Zustimmung der Nato für einen Verhandlungsmandat an die VKSE in Wien über Truppenobergrenzen in Zentraleuropa. Immer wieder hat die Sowjetunion deutlich gemacht, daß sie die deutsche Vereinigung nicht im Sack kaufen werden, sondern vorher wissen wollen, welche maximale Truppenstärke eine gesamtdeutsche Armee haben darf. Da die Bundesregierung es in jedem Fall vermeiden will, isoliert über die deutsche Armee zu verhandeln, muß nun ganz schnell eine teileuropäische Lösung her. Genschers Vorschlag: In Wien soll noch bis zum September über die Truppenobergrenzen in der „Region4.4“ verhandelt werden. Nach bisheriger Definition gehören zu dieser Region auf westlicher Seite die BRD, die Benelux-Staaten und Dänemark. Im Osten sind es die DDR, Polen, die CSFR und Ungarn. Um allen Beteiligten ihre Zustimmung so einfach wie möglich zu machen, schlägt die Bundesregierung jetzt vor festzulegen, daß kein Staat in dieser Region mehr als „X“ Soldaten haben darf. Informell wird gemunkelt, die Höchstgrenze „X“ solle auf 350.000 festgezurrt werden. Käme es dazu, wäre von den genannten Staaten nur das vereinigte Deutschland betroffen, da alle anderen sowieso weit kleinere Armeen unterhalten. Trotzdem könnten sich Kohl und Genscher damit trösten, sie hätten eine „Singularisierung“ Deutschlands verhindert. Erste Reaktionen aus den USA gehen dahin, ein solches Vorgehen zu unterstützen.

Zweiter wichtiger Punkt für Kohls Gespräche mit Gorbatschow wird die Ausstattung und Kompetenz zukünftiger KSZE -Institutionen sein. Genscher und sein sowjetischer Kollege Schewardnadse gefielen sich bislang immer in der Formulierung, die KSZE solle zu einem blocküberwölbenden Dach europäischer Sicherheit werden. Allein die Amerikaner sehen dies ganz anders. Von einer perspektivischen, schrittweisen Überführung von Nato und Warschauer Pakt in zukünftige KSZE-Greminen will Bush nichts wissen. „Wer kennt in den USA schon die KSZE“, wehren US-Verteidigungspolitiker alle Vorstöße in diese Richtung ab. „Unsere Leute wissen, daß die Nato vierzig Jahre ihre Sicherheit garantiert hat.“ Und so soll es auch bleiben. Ein paar Konsultationsgremien könne man ja einrichten, die dürften allerdings nur komplementären Charakter zur Nato haben. Für Genscher und Kohl eine schwierige Position, da Gorbatschow mit diesen Angeboten keinesfalls zufrieden sein kann.

Bleibt noch die Frage der Nato-Strategie im engeren Sinne. Die Ankündigung von Bush, man werde wohl den Abzug der atomaren Artillerie anbieten, und die Schwelle für den Ersteinsatz atomarer Waffen erhöhen, bleibt weit hinter dem zurück, was Gorbatschow sich an Signalen aus London erhofft hat. Entsprechend drängen die Deutschen und andere europäische Nato-Mitglieder darauf, zumindestens die Drohung eines atomaren Ersteinsatzes völlig aus der geltenden Nato -Doktrin zu verbannen. Außerdem wollen die Bundesdeutschen endlich den Abzug der alten Lance-Kurzstreckenraketen schriftlich haben. Ungeklärt ist weiterhin, ob die von den Amerikanern zur Zeit neu entwickelten atomaren Luft-Boden -Raketen, die die Cruise-Missiles ersetzen sollen, auch auf amerikanischen Flugplätzen in Deutschland stationiert werden sollen, oder ob die zentraleuropäische Zone in absehbarer Zukunft atomwaffenfrei wird.

Jürgen Gottschlich

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