piwik no script img

Kindesmißbrauch: Große Versöhnung?

■ Feministische und familienorientierte Ansätze gegen den sexuellen Mißbrauch von Kindern wachsen zusammen / Gespräch mit Vertreterinnen von „Wildwasser“ und „Kind im Zentrum“

West-Berlin. Sexueller Mißbrauch von Kindern geschieht meistens in der Familie. Tragen alle Mitglieder ihren Teil Schuld daran, müssen alle familiendynamisch betreut werden? Oder muß das Opfer aus diesem Umfeld herausgenommen werden? Kann Männern ihre Gewaltanwendung überhaupt deutlich gemacht werden? Sind Männer letzten Endes auch nur arme Opfer, denen geholfen werden muß? Diese Fragen wurden in den letzten Jahren sehr unterschiedlich beantwortet. Doch seit neuestem gibt es beim feministischen und beim familienorientierten Ansatz keine unterschiedlichen Antworten mehr. Das ergab sich aus Gesprächen der taz mit VertreterInnen des Mädchenprojektes „Wildwasser“ mit einem explizit feministischen Ansatz und „Kind im Zentrum“ mit einem familienorientierten Ansatz.

Bislang ging es den VertreterInnen des familienorientierten Ansatzes um die Wiedereingliederung des Opfers in den Familienzusammenhang. Der Täter war in ihren Augen therapiefähig. Das Bonbon für seine Bereitwilligkeit, sich betreuen zu lassen, war die rekonstruierte Familie. Für die Feministinnen jedoch war der Mißbraucher von vornherein kein Fall für ihre Betreuungseinrichtung. Sie wollten das Opfer aus der „kranken Zelle“ herausholen. Doch nun begreifen die VertreterInnen beider Ansätze die Ängste, die Isolation und die Wünsche der Mißbrauchten als Mittelpunkt ihrer Arbeit. Den Beteuerungen der Täter trauen beide Richtungen nicht. Eine Wiederherstellung der Familiensituation strebt niemand mehr an. Und die VertreterInnen des feministischen Ansatzes haben bemerkt, daß leider nicht alle Frauen zu Feministinnen gemacht werden können, daß sich manche Opfer eine Konfrontation mit den Tätern wünschen und sich weiterhin auf die „patriarchale Wirklichkeit“ einlassen.

Zentrales Thema bei beiden Ansätzen war schon immer das Schuldproblem der Kinder. „Kinder fühlen sich immer verantwortlich für alles, nehmen immer die Schuld auf sich“, erklärt Wiltrud Schenk von „Wildwasser“ - und ganz besonders die Mädchen, die es gelernt haben, passiv zu sein und sich aufzuopfern. Mißbraucher hingegen sehen das Kind als Projektionsfläche ihrer eigenen Vorstellungen. Sie unterscheiden nicht zwischen ihren eigenen sexuellen Vorstellungen und dem, was ein Kind sich als Zuneigung wünscht. Eine andere Form von Zuneigung als Sex ist für sie kaum vorstellbar. Auch in anderen Fällen, zum Beispiel bei Vergewaltigungen, nehmen Männer Schuld nicht auf sich. Mit Schuldübertragung auf andere scheinen sie keine Probleme zu haben. „Die sind ja immer so aufreizend angezogen“, „selber schuld“, „so sind wir eben“ - so lauten typische männliche Entschuldigungen gegenüber ihren weiblichen Opfern. Das ist für die Mitarbeiterinnen von „Wildwasser“ der Grund, warum sie ausschließlich nur die Mißbrauchten und eventuell noch deren Mütter betreuen. Die Rollenverteilung in der Familie, in der die Mutter dem Kind nicht zu Hilfe eilt, weil sie Angst vor dem patriarchalischen Vater hat, macht eine Betreuung des Täters schwierig. „Die Mißbraucher gestehen ihre Schuld ja nicht so einfach ein“, kommentiert Wiltrud Schenk von „Wildwasser“. „Wir sehen unsere Rolle auch nicht darin, einem Mann zu erzählen, daß er der Aggressor ist und sich über seine Rolle Gedanken zu machen hat. Wir versuchen jedoch, einen Therapiezwang einzuführen und Männer in Männertherapien zusammen zum Nachdenken zu zwingen.“

Die Frauen von „Wildwasser“ gehen auch nicht von einem Anteil der ganzen Familie am Mißbrauch aus. Für sie ist das Kind Opfer und damit völlig schuldlos, nicht verstrickt im familiendynamischen Prozeß. „Kind im Zentrum“ hingegen versucht auch die Mißbraucher zu betreuen. Durch Konfliktgespräche - zuerst die Opfer mit den Müttern, dann die Mütter mit den Tätern, zuletzt alle zusammen - soll die Familiendynamik aufgebrochen und dem Kind das Gefühl der Schuld genommen werden.

Die VertreterInnen beider Ansätze lassen Mißbrauchte erst dann wieder auf Wunsch zur Mutter zurückgehen, wenn sich diese von ihrem Lebenspartner getrennt haben. Die Zeit der Konfrontation zwischen den beiden Richtungen ist also vorbei. Die Zusammenarbeit funktioniert gut, und davon profitieren auch die Opfer.

Annette Weber

Beratungsstellen für sexuell Mißbrauchte: „Wildwasser e.V.“, Mehringdamm 50, Berlin 61, Tel.: 7865017, Mo. bis Fr. 10 bis 14 Uhr, Mo. und Do. auch 15 bis 17 Uhr.

KIZ (Kind im Zentrum), Sybelstraße 30, Berlin 12, Tel.: 3247090, Mo., Mi. und Fr. 9.30 bis 12.30 Uhr sowie Di. und Do. 16 bis 19 Uhr.

Kindernotdienst, Tel: 610061, rund um die Uhr.

Jugendnotdienst, Tel: 344026, rund um die Uhr.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen