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DDR-Justiz zwischen Stillstand und Routine

■ Im Haus der Gerichte sind die meisten Verhandlungen abgesagt / Neue Gesetze sind zwar beschlossen, aber noch nicht gedruckt / Nur schleppend gewöhnen sich die Gerichte an Öffentlichkeit / Die Gerichtsdirektoren sind entmachtet

Aus Berlin Karin Mayer

Haus der Gerichte, Littenstraße, Ost-Berlin. Nur eine Strafsache wird an diesem Tag im Stadtbezirksgericht Berlin Mitte verhandelt. Seit dem 1.Juli ist es im labyrinthischen Jugendstilgebäude ruhig geworden. Der Grund: Mit der Wirtschafts- und Währungsunion traten neue Gesetze in Kraft. Die Richterinnen und Richter, die über vierzig Jahre lang auf dem sicheren Boden der alten Gesetze und Gepflogenheiten Recht gesprochen haben, begeben sich jetzt in juristisches Neuland.

Die Richterinnen und Richter der DDR wurden im SED-Staat nach strengen ideologischen Kriterien ausgewählt. Die Partei entschied über die Karriere. Die Justiz mußte staatstragend sein. Das war die Hauptsache. Die Theorie der Gewaltenteilung galt als bürgerliche Ideologie. Nicht selten erhielten die Richter Anweisungen vom „Obersten Gericht“ oder anderen Justizorganen. Unliebsame Entscheidungen wurden kassiert. Der Gerichtsdirektor konnte, falls eine Entscheidung als nicht genehm erschien, jede Sache zur Bearbeitung an sich ziehen...

„Der Direktor hat den Richtern jetzt nichts mehr zu sagen. Die sind jetzt völlig unabhängig,“ so die Dame im Vorzimmer des Direktors des Stadtbezirksgerichts Berlin Mitte. Aus ihrem Mund klingt das wie ein Skandal. „Sie suchen das Informationsbüro für das Stadtgericht? Zweites Obergeschoß, Hauptgang B, Quergang 8, Zimmer 272.“ Verstanden? Wer 's trotzdem findet, ist wahrscheinlich umsonst gekommen: „Für Personen aus der nichtsozialistischen Welt sind Verhandlungen nicht öffentlich,“ wehrt das Informationsbüro ab. Dazu gehörten natürlich auch Personen aus West-Berlin.

Die Abteilung Rechtsinformation, Analyse und Statistik hat ein Pressebüro eingerichtet. Fragen werden am Freitag um 13,45Uhr beantwortet. Auf dem Schreibtisch liegt ein dicker Band Deutsche Gesetze, mit dem bisher bundesdeutsche Jurastudenten bewaffnet wurden. Mehr ist hier nicht herauszufinden.

Tatsächlich finden in dem weitläufigen Gerichtsgebäude an diesem Tag nur fünf Verhandlungen statt. „Hiermit eröffne ich die Verhandlung am Stadtbezirksgericht Berlin Mitte.“ Soweit ist alles Routine. Verhandelt wird wegen Trunkenheit am Steuer. Angeklagt ist der 21jährige Wagenreiniger Rene F., beschäftigt bei der Deutschen Reichsbahn. F. hat keinen Anwalt, die zwei geladenen Zeugen sind nicht erschienen. Der Vorsitzende Richter macht den Angeklagten auf sein Recht aufmerksam, auf den Zeugenvernehmungen zu bestehen. F. reagiert mit hilflosem Schulterzucken, verzichtet schließlich auf die Zeugen. Stockend und ohne weitere Begründung beantragt die Staatsanwältin drei Monate auf Bewährung. Die Urteilsverkündung wird in drei Tagen stattfinden. Der Wagenreiniger kann gehen. Die Richter klemmen ihre Akten unter die Achseln und entschwinden in ihre Büros.

Ein Stockwerk höher sitzt das Stadbezirksgericht Prenzlauer Berg. „Alle für den 6.7.90 ausgesetzten Gerichtsverhandlungen sind aufgehoben. Neue Ternime werden schriftlich mitgeteilt. Gezeichnet Richter Heuer.“ - Ein handgeschriebener Zettel an der Tafel, auf der sonst die Termine des Tages bekanntgegeben werden. Im Wartesaal blättert ein weißhaariger Herr in einer Akte. Gearbeitet wird nicht? Zwar hat die Volkskammer neues bürgerliches Recht verabschiedet, den Richterinnen und Richtern liegen aber die neuen Gesetzestexte noch nicht vor. „Da wäre die Gefahr doch groß, daß eine falsche Entscheidung getroffen wird,“ erklärt eine Justizsekretärin. „Viele unserer Richter sagen“, begründet sie das Stocken der Rechtsprechung weiter, „sie haben völlig umsonst studiert und müssen ganz von vorne anfangen.“ Das gelte auch für viele Jura-Studenten, die kurz vor dem Abschluß stehen. Weil die Zeiten so unsicher seien, überlegten sich viele Bürgerinnen und Bürger, ob sie überhaupt vor Gericht gehen, meint eine angehende Justizsekretärin.

Die Gesetze ändern sich - die Gerichtspraxis bleibt

Drittes Obergeschoß, Hauptgang A, Quergang 9. An der Wand eine „Agitationskarte für Schulungszwecke“, die politisch -administrative Gliederung der UdSSR. Hier tagt das Stadtgericht Ost-Berlins. Streitigkeiten zwischen Nachbarn oder Familienmitgliedern stehen auf der Tagesordnung. Richter Baier, weißhaarig mit dicker Brille, verzichtet ganz auf Formalitäten. „Wir kennen uns ja schon vom letzten Mal,“ sagt Baier nur. Der Kläger M. möchte seinen Vater dazu bewegen, ein Sparbuch herauszugeben, das vor 20 Jahren anläßlich seiner Jugendweihe eingerichtet wurde. Der angeklagte Vater erscheint nicht. Nach wenigen Minuten ist die Verhandlung beendet. Kläger M. entrüstet sich. Richter Baier hat Mühe zu Wort zu kommen. Einen Protokollführer gibt es nicht, die wichtigsten Verhandlungsergebnisse werden kurzerhand in ein Diktiergerät gesprochen.

Der nächste Fall: Frau B. hat sich mehrfach über den Lärm der Nachbarskinder geärgert und fordert Genugtuung von der Nachbarin L. Baier redet auf die beiden Damen ein, lehnt sich dabei weit nach vorne über sein Pult, lächelt versöhnlich, ermahnt väterlich. Verhandlungsdauer: 20 Minuten. Im Stadtgericht wird weniger Recht gesprochen, als geschlichtet. Man fühlt sich unweigerlich daran erinnert, daß das Haus der Gerichte als königlich-preußisches Gericht gebaut wurde.

„Wir sind hier nicht am Zahn der Zeit. Ob nun ein Nachbar den anderen wegen Lärmbelästigung verklagt... Das wird in neuem Recht auch nicht viel anders entschieden,“ sagt Baier nach der Verhandlung. „Es werden sich zwar die Gesetze, aber nicht die Gerichtspraxis ändern. Und die habe ich im übrigen noch nie für unerträglich gehalten.“

Nicht nur die Gesetze haben sich in kurzer Zeit verändert: Seit der Währungsunion sind in Ost-Berlin die Zahl der Laden - und Taschendiebstähle sprunghaft gestiegen. Neue Aufgaben kommen auf die DDR-Jusitz zu. „Das dauert Wochen, bis diese Fälle zu uns kommen,“ sagt Baier. „Damit beschäftigt sich zuerst die Polizei, dann geht das zur Staatsanwaltschaft und wird von dort an uns weitergeleitet.“ Noch sind die Gänge verwaist im Ostberliner Haus der Gerichte.

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