SPD diskreditiert Idee einer Verfassung

■ Die SPD fordert einen Verfassungsrat und gräbt ihm gleichzeitig das Wasser ab

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Der Entwurf, den die SPD für einen Staatsvertrag vorgelegt hat, ist dem der Bundesregierung genau entgegengesetzt. Exakt 23 Zeilen verwandte Schäuble auf die „Überleitung des Grundgesetzes“, neun Seiten darauf, wie der früher SED -dominierte Staatsapparat der DDR in fast vollständiger personeller Kontinuität in einen loyalen öffentlichen Dienst umgewandelt werden kann. War der erste Staatsvertrag, der Vertrag der harten Mark, so wird der zweite - nach den Vorstellungen der Bundesregierung - der des weichen Beamtensessels. Demgegenüber macht die SPD die künftige deutsche Verfassung zum Thema ihres Entwurfs. Sie fordert einen Verfassungsrat, der bis Ende 1992 eine neues Grundgesetz ausarbeiten und zur Volksabstimmung stellen soll.

Aber merkwürdig, die Sozialdemokratie scheint an die eigene Courage nicht zu glauben: In einer Situation galoppierender exekutiver Entscheidungszwänge, in einer Situation, in der überall Junktims formuliert, aber unter schwierigen Bedingungen Kompromisse gefunden werden müssen, will die SPD alle möglichen Änderungen festschreiben. Und das im Vorgriff auf den von ihr geforderten Verfassungsrat, der das Grundgesetz nur mit 2/3-Mehrheit ändern können soll.

Es handelt sich um edle Forderungen, wie das Selbstbestimmungsrecht der Frauen bei Schwangerschaft, um Aussperrungsverbot, Ökologie als Staatsziel, Stärkung des Föderalismus etc. Alles gut und richtig. Aber was soll eine verfassungsgebende Versammlung noch ausrichten, wenn die Änderungen, die die SPD für wirklich wichtig hält, vorher und - unter absichtsvoller Umgehung dieser Versammlung - im zwischenstaatlichen Kuhhandel und in den auf einfachen Mehrheiten beruhenden Ratifizierungsverfahren für Verträge durchgeboxt würden?

Die Parteien der Arbeiterbewegung sind für ihr intimes Verhältnis zu „Strategie & Taktik“ bekannt. Die SPD taktiert, anstatt sich an die Spitze demokratischer Veränderungsprozesse zu setzen. Für eine Änderung des Grundgesetzes gibt es nur zwei Möglichkeiten: Entweder man setzt auf die Kompetenz und den Veränderungswillen einer neuen verfassunggebenden Versammlung oder die Volkskammer der DDR sagt, welche Artikel der dann gemeinsamen Verfassung als Bedingung für ihre Selbstauflösung geändert werden müssen. Das Grundgesetz einfach en passant zu revidieren, die Änderungen als Gegenleistungen für Zustimmung zu tagespolitischen Fragen und Gesetzen zu verlangen, ist ein ebenso undemokratischer wie illegitimer Weg zu einer neuen Verfassung.

Im übrigen ist die Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes nicht so schlecht: Es entstand in einer Situation der Niederlage, der Scham und selbstkritischer Besinnung. Ob sich die Deutschen ausgerechnet im Vollgefühl ihrer nationalen und internationalen Erfolge eine bessere Verfassung geben werden, ist immerhin fraglich.

Götz Aly, West-Berlin