: Bequeme Sündenböcke
■ Zur geplanten Abberufung der Marxismus-Leninismus-Professoren
KOMMENTAR
Der Ministerratsbeschluß über die generelle Abberufung von Professoren für Marxismus-Leninismus ist umstritten. Sicher: Er ist vom Bemühen geprägt, in der Wissenschaft Vergangenheit aufzuarbeiten. Und so sehr es auch im Interesse aller liegt, diejenigen, die der Wissenschaft schaden, ihres Platzes zu verweisen - der Beschluß läßt doch noch einiges offen.
So wirft die zielsichere Einseitigkeit den Verdacht auf, daß hier lediglich schnell ein Sündenbock für weit über diesen Kreis hinausgehende Gewissenlosigkeit an den Universitäten gefunden werden soll. Zu diesem Zweck setzt man denn auch auf eine Stimmung, die eh von Marxisten -Leninisten heute nichts wissen will und längst dieser Gruppe von Wissenschaftlern jede Solidarität versagt hat. Die Zeit ist also günstig, rasch ein kollektives Berufsverbot auszusprechen gegen all jene, deren Berufsbezeichnung als Synonym gilt für die abzutragende Schuld der vergangenen Jahre. Doch hätte nur dieser kleine Kreis all die vorgeworfene Schmach des Kriechertums und der Dummheit auf sich geladen, wäre wohl kaum das stalinistische System über so eine lange Zeit gekommen.
In den Papieren der ehemaligen SED-Kreisleitung der Karl -Marx-Universität zum Beispiel ist von „ideologischen Unruheherden“ an den naturwissenschaftlichen Sektionen kaum etwas zu lesen. Auch hier gab es wohl wie überall neben integren Wissenschaftlern solche, die für die Karriere Kompromisse gemacht haben oder gar nur durch diese hochgekommen sind. Mit anderen Worten: Nicht nur Gesellschaftswissenschaftler haben sich politisch belastet, und vor allem: nicht alle. Oder, wenn man es von außen betrachten will, dann haben sich alle, aber auch alle, die wissenschaftlich gearbeitet haben, ihrer Verantwortung zu stellen.
Die Forderung nach einheitlichen Kriterien für die gesamte Überprüfung der berufenen Professoren besteht somit zu Recht, zumal alle, abgeschottet von internationalen Konkurrenten, auf der Grundlage des DDR-Berufungsgebietes ins Amt kamen. Wird der Forderung nicht entsprochen, müssen sich die Verfasser des Abberufungsbeschlusses fragen lassen, inwiefern nicht politische Absichten hinter ihrem Tun lauern, die denen ihrer Vorgänger in nichts nachstehen. Geht das angestrebte Verfahren über die Sommerferien durch, hat man das Paradigma geschaffen für die Lösung aller zukünftigen Auseinandersetzungen. Mit dem Festmachen der absolut Schuldigen kann sich der Rest der Gesellschaft bequem zurücklehnen. Der notwendige Erkenntnisprozeß für jeden einzelnen ist freilich damit abgeschnitten.
Vera Linß
Die Autorin ist Studentin für Jounalistik an der Uni Leipzig
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