: Gesellschaftswissenschaftler als Sündenböcke
■ An den DDR-Unis fühlen sich die Professoren für Marxismus-Leninismus gegenüber den Naturwissenschaftlern benachteiligt
Aus Leipzig Vera Linß
An der Leipziger Karl-Marx-Universität (KMU) herrscht nur mäßiger Betrieb. Wie überall im Land sind die Studenten in die Semesterferien verabschiedet worden, ein Teil der Mitarbeiter weilt im Urlaub. Doch die äußere Ruhe trügt. Hinter den Kulissen werden die Konflikte um den Demokratisierungsprozeß der Universität ausgefochten. Alle sprechen von demokratischer Erneuerung. Aber die, klagen ebenfalls alle, komme nicht so recht voran. Ob Studenten oder Wissenschaftler, Leiter oder Geleitete: darin sind sie sich einig. Deutlich kommt die Polarisierung zwischen Naturwissenschaftlern und Gesellschaftswissenschaftlern zum Ausdruck. Sie zeigt sich in der Arbeit des Konzils, das aus 125 Studenten, Professoren, wissenschaftlichen Mitarbeitern und Angestellten besteht, und auch in der Tätigkeit der jüngst gebildeten Verfassungskommission, die bis Oktober eine neue Universitätsordnung erarbeiten soll. „Der Kern der Differenzen“, erläutert Peer Pasternak vom Studentenrat, „liegt im generellen Mißtrauen der Naturwissenschaftler gegenüber den Sozialwissenschaftlern. Diese Haltung ist wohl begründet mit der Funktion, die diese im Lande hatten.“
So scheinen deren Vertreter in den Augen von Naturwissenschaftlern allesamt Apologeten des SED-Regimes zu sein. Vier Mathematikprofessoren wandten sich mit der Begründung, der Erneuerungsprozeß an der Uni vollziehe sich nur formal, an den Bildungsminister. Der solle dringend Maßnahmen einleiten, weil der Universität die Kraft zur Selbstreinigung fehle. Dieser Brief wurde in Auszügen in der 'Faz‘ veröffentlicht. Kurze Zeit später erschien in derselben Zeitung die Forderung von elf Naturwissenschaftlern, alle ML-Dozenten zu überprüfen beziehungsweise abzuberufen, die in einem Ministerratsbeschluß ihre Entsprechung fand. Am 20.Juni endlich wurde der Rektor von elf Mathematikprofessoren zum Rücktritt aufgefordert - wieder mit dem Vorwurf, den Demokratisierungsprozeß an der Uni zu verschleppen. Auch das hatte Folgen: Der Rektor trat am 25.Juni zurück, eine Vermittlung zwischen den Gruppen sei ihm nicht mehr möglich.
Mathematikprofessor Roßberg ist einer der Unterzeichner der Rücktrittsforderung. Doch zu mehr als einem dreiminütigen Gespräch ist er nicht bereit. Er wisse nicht, beantwortet er die Frage, worin denn nun konkret die Verschleppung der Demokratisierung bestehe. Informationen habe er nicht. Auch Professor Eisenreich, der seine Unterschrift außerdem noch unter den Ministerbrief gesetzt hatte, kann nur spärlich Auskunft geben. Genaues weiß er nur aus der eigenen Sektion. Dort kennt er zwei Wissenschaftler, deren Be rufung für ihn in Frage steht. Über die gesellschaftswissenschaftlichen Sektionen ist ihm außer der allgemeinen Meinung nichts bekannt. Auch Eisenreich ist für die hauptsächliche Überprüfung von ML-Professoren, weil die sich am meisten schuldig gemacht hätten. Wie die Demokratisierung genau vonstatten gehen soll, kann er jedoch nicht sagen, denn: Selbst wenn die Vertrauensfrage gestellt würde, wären es ja immer noch die alten Leute, die neu wählen. Professor Okun von der ehemaligen Sektion Marxismus-Leninismus plädiert ebenfalls für radikale Erneuerung. Das angestrebte Verfahren lehnt er jedoch ab. „ML-Professoren sollen die Sündenböcke der Gesellschaft werden“, sagt er. Und: Das ließe „sich in einer demokratisch strukturierten Öffentlichkeit niemals durchsetzen“. Er fordert, gleiche Verfahren auch für naturwissenschaftliche und medizinische Bereiche anzuwenden.
Das letzte Konzil der Universität hat nun mit großer Mehrheit an die Chefs aller Uni-Einrichtungen appelliert, die Vertrauensfrage mit einer Erklärung zur politischen und fachlichen Vergangenheit zu stellen. Außerdem wurde vom neuen Rektorat eine Kommission gebildet, die anstelle einer sofortigen Abberufung der ML-Professoren deren Überprüfung vornimmt. Daneben haben studentische Konzilteilnehmer den Vorschlag gemacht, eine unabhängige Kommission zur Überprüfung von Vorwürfen gegen berufene Hochschullehrer und staatliche Leiter der KMU zu bilden. Siehe Kommentar Seite 10
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