: Sarajevo - erneut jugoslawischer Schicksalsort?
■ Serbische und kroatische Nationalisten wollen die Republik Bosnien-Herzegowina unter sich aufteilen / Bosnische Nationalisten wollen ihrerseits „antibosnische Parteien“ nicht zu den Wahlen zulassen / Das Volk der „Muslimanen“ fühlt sich bedroht
Aus Belgrad Roland Hofwiler
Die wildesten Gedankenspiele, wie der föderative Vielvölkerstaat Jugoslawien sich auflösen, umwandeln oder doch weiterbestehen sollte, füllen in diesen heißen Sommertagen die Medien des Balkanstaates. Da erklärte beispielsweise zum Wochenende der slowenische Ministerpräsident Milan Kucan im reformfreudigen KP-Blatt 'Delo‘, die Nordrepubliken Slowenien und Kroatien könnten sich in naher Zukunft als eigener Staat zusammenschließen. Und einen neuen Namen für diesen „neuen Staat“ warf der Slowene gleich mit in die Diskussion: Krowenien.
Dabei durfte dem Wendehals keineswegs entgangen sein, daß sein kroatischer Amtskollege Frsnho Tudjman ein „Großkroatien“ anderer Art anvisert. Öffentlich versprach der neue starke Mann Kroatiens - er strebe ein großes, starkes, demokratisches und souveränes Kroatien in seinen „historischen Grenzen“ an. Ein Kroatien das weit in die jetzige Republik Bosnien-Herzegowina hineinreicht, in der 800.000 Kroaten leben. Sein verbales Säbelrasseln wurde nicht nur in der bosnischen Hauptstadt Sarajevo übel aufgenommen und in der Südrepublik Serbien als Aufruf zum Bürgerkrieg verstanden. Auch in den Republiken Mazedonien und Montenegro kursiert die Angst. Denn zu den beiden zweifelsohne mächtigsten Politakteuren im heutigen Jugoslawien - gesellt sich noch ein dritter: Serbiens national-populistischer Führer Slobodan Milosevic, der mit seiner Kosovo-Politik schon vor zwei Jahren einen blutigen Nationalitätenzwist zwischen Albanern und Serben vom Zaun brach. Sein neuer Slogan: „Serbien wird groß und stark sein
-oder es wird nicht mehr sein.“ Denn Serbien sei ja in den letzten Jahrzehnten immer wieder „zerstückelt“ worden, man habe es immer wieder verkleinert, nur um „der Vielvölkerstruktur Rechnung zu tragen, um nationalen Konsens zu schaffen“, so Milosevics Hausbastion 'Politika‘. Aber die Tageszeitung macht keinen Hehl daraus: Serbiens historische Grenzen sind bei weitem größer als die Republik, große Teile Bosniens und Herzegowinas seien eigentlich „altserbisches Staatsgebiet“.
In der Tat gibt es das Volk der „Muslimanen“ erst seit 1971 - also eine künstliche Schöpfung? Im Zuge des nationalen Erwachens behaupten die einen, die „Muslimanen“ seien islamisierte Serben, die anderen sprechen von islamisierten Kroaten, und die Betroffenen selbst halten sich als Slawen für ein „eigenständiges Volk“, das stark von der osmanischen Geschichte geprägt wurde. Nach der letzten offiziellen Volkszählung, die jedoch schon neun Jahre zurückliegt, erklären sich über zwei Millionen Jugoslawen als „Muslimanen“ und stellen damit nach den Serben und den Kroaten das drittgrößte Volk innerhalb der Vielvölkerföderation.
Bosnien-Herzegowina, an der Nahtstelle zwischen Okzident und Orient gelegen, galt über Jahrhunderte als Zankapfel verschiedener fremder Mächte, Sarajevo, das „Damaskus Europas“ genannt, war einmal Teil des Osmanischen Reiches, dann wieder des serbischen Königtums, in neuerer Zeit auch Bestandteil der Habsburger Monarchie und nicht zuletzt, während des Zweiten Weltkrieges, Teil des von Hitler ausgerufenen „Freien Kroatischen Staates“. Um die Region endlich zu befrieden, riefen die Nachkriegskommunisten unter Tito einfach eine „künstliche Nation“ aus, das Volk der „Muslimanen“, eine Idee, die von großen Teilen der betroffenen Bevölkerung allerdings gut geheißen wurde. Mit dem Niedergang kommunistischer Ideen auch in Jugoslawien versuchen nun bürgerliche Parteien die alten Zwiste für sich zu nutzen. Negiert Tudjman die Volksidee der „Muslimanen“ als „titoistischen Schwachsinn“, hält sich Slobodan Milosevic noch weise zurück, läßt aber keinen Zweifel aufkommen, „den bosnisch-herzegowinischen Serben muß Beistand geleistet werden“. Milosevics Widersacher, allen voran Vuk Draskovic von der Partei der „Serbischen Erneuerung“, dem bei freien Wahlen ein Sieg über Milosevic prophezeit wird, erklärt ohne Umschweife, „das serbische Siedlungsgebiet reicht bis Rijeka“. Rijeka, eine Hafenstadt weit nördlich von Sarajevo, im heutigen Kernland von Kroatien gelegen.
Im November nun wollen die Sarajevoer Kommunisten dem Beispiel Kroatiens und Sloweniens folgen und noch vor Serbien freie Republikwahlen zulassen. Das von den Sarajevoer Kommunisten durchgeboxte Wahlgesetz sieht jedoch vor, daß „Parteien mit nationalserbischen und nationalkroatischen Tendenzen“ nicht zugelassen werden. In den jugoslawischen Medien wird nicht diskutiert, wie die bosnische Problematik in den Griff zu bekommen ist. Um so häufiger werden Gebietsansprüche laut. Im experimentierfreudigen Reformblatt 'Borba‘ macht sich allein der ehemalige Weggefährte Titos und spätere Stardissident Jugoslawiens, Milovan Djilas, Gedanken und kommt zu dem Schluß: „Der Kampf um Bosnien steht als nächstes bevor. Erst jetzt wird Jugoslawien in die wahre Krise geraten“, - in der sich eine friedliche Neuordnung oder bürgerkriegsähnliche Zustände entladen könnten.
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