: Kleine Feuer
■ Leserbriefe an die sowjetische Zeitschrift 'Ogonjok‘
Bücher über Glasnost und Perestrojka haben Konjunktur. Auch in der aktuellen Berichterstattung nimmt die Entwicklung in der UdSSR immer breiteren Raum ein. Über die Stimmung in der sowjetischen Bevölkerung selbst erfährt man dabei nur am Rande. Häufig gewinnt man daher den Eindruck, die Besorgnis über ein mögliches Scheitern Gorbatschows sei im Ausland größer als in der Sowjetunion selbst. Dieser Eindruck täuscht. Seit mehr als drei Jahren findet in der sowjetischen Öffentlichkeit eine Debatte um die alte Gesellschaft und die neue Politik statt, die an Leidenschaftlichkeit ihresgleichen sucht. Geführt wird sie an einem Ort, der in westlichen Gesellschaften längst seine demokratische Brisanz eingebüßt hat: in den Leserbrief -Spalten einiger großer Zeitungen und Zeitschriften. Eine Vorreiter-Rolle kam dabei dem ehemals eher unbedeutenden und konformen Blatt 'Ogonjok‘ zu. 1986 liefen täglich rund zwanzig Zuschriften in der Leserbriefredaktion ein: Ergebenheitsbekundungen oder anonyme Klagebriefe. Wie es heute bei 'Ogonjok‘ aussieht, beschreibt der stellvertretende Chefredakteur Lew Guschtschin so:
„Jeden Tag bringt ein Bote frühmorgens aus dem Postraum unseres Verlagshauses einen Sack, bis zum Rand gefüllt mit Briefen. Es ist die Post eines einzigen Tages an die Zeitschrift 'Ogonjok‘. Politiker und Schüler, Studenten und Rentner schrieben uns; alle sozialen Schichten, alle Berufe, alle Altersgruppen sind in diesem Sack vertreten. Die Stimmen des ganzen Landes sprechen aus den Umschlägen. Und die Adressen sind ein Geographie-Lehrbuch der Sowjetunion.“
Mehr als 300.000 Leser-Zuschriften erhielt 'Ogonjok‘ seit 1986; rund 200 der engagiertesten und wichtigsten Briefe haben die amerikanischen Journalisten Albee und Cerf gemeinsam mit dem Chefredakteur Korotitsch ausgewählt und als Buch herausgebracht. Unter dem Titel Die neue Freiheit ist es jetzt auch auf Deutsch erschienen, und für den, der etwas über die heutige Sowjetuion erfahren will, läßt sich kaum eine informativere und spannendere Lektüre denken. Das liegt zum einen an den kurzen, aber aufschlußreichen Erläuterungen, in denen Hintergrundwissen über die wichtigsten Themenschwerpunkte des Buches „Perestrojka und Wirtschaft“, „Die Nationalitätenfrage“ und „Die Aufarbeitung der stalinistischen Vergangenheit“ geboten wird. Vor allem aber sind es die Briefe selbst, die den Band zu einem politischen Lesebuch, ja zu einem Lehrbuch politischer Streitkultur machen, von der ja auch bei uns viel die Rede ist. Zwar hat sich 'Ogonjok‘ zur publizistischen Speerspitze der Perestrojka entwickelt; man beherzigt in der Zeitschrift jedoch das Recht auf freie Meinungsäußerung auch für deren Gegner, von denen einige die gesamte Redaktion lieber nach Sibirien verbannen würden. Und so streiten sich auf den Leserbriefseiten Gorbatschow -Anhänger mit Konservativen, Opfer des Stalinismus mit Neostalinisten, Radikalreformer mit Antisemiten.
Die Briefe zeugen von der Suche nach Wahrheit, und da Wahrheit immer konkret ist, handeln sie meist vom unmittelbaren Alltag: Da geht es um die Geburtstagsfeier, die nicht stattfinden kann, weil es in ganz Leningrad weder Gebäck noch Hefe zu kaufen gibt. Da beschreibt ein Autobesitzer seine Odyssee auf der Suche nach Ersatzteilen; sein Resümee: nur gut, daß PKWs keine Holzteile haben, sonst würde auch noch das Holz knapp.
Banale Themen also - so könnte man meinen; vor allem, wenn man in einer Gesellschaft lebt, die solche Probleme nicht kennt. Aber welche politische Sprengkraft den Warteschlagen vor den Geschäften zukommt, das ahnt eine 'Ogonjok' -Leserin:
„Wenn das Land zu einer einzigen riesigen Schlange geworden ist, wird die Zeit kommen, in der diese Schlange viel entscheidet. Schon jetzt verbindet diese Schlange das katastrophale Verschwinden von ganzen Warengruppen mit der Perestrojka. Keine Zahlen, nicht einmal die furchtbarsten die Millionen Opfer des Stalinismus - werden die Schlange erschrecken und sie davon überzeugen, daß es unter Stalin schlimmer war!“
'Ogonjok‘ ist mehr als ein nationaler Kummerkasten. Jedes individuell erlittene Unrecht wird in politische Forderungen, zumindest in scharfsinnige Analysen umgemünzt. Zudem ist die Lektüre auch deshalb nie langweilig, weil die Briefe mit großer Leidenschaft geschrieben sind: mit Erbitterung manchmal, mit Zorn und Trauer, vor allem aber mit Witz und Humor. Ein Beispiel: Im Kampf gegen die verbreitete Schwarzbrennerei griff die eher hilflose Regierung zu einem stark umstrittenen Mittel: Sie rationierte den Zucker. In einer Fernsehsendung sollten Wirtschaftsbürokraten auf Publikumsfragen antworten. Ein 'Ogonjok'-Leser beschreibt mit bitterem Spott die Reaktion der Apparatschiks: „Als die Zuschauer fragten: 'Warum sind eigentlich Kekse und Süßigkeiten aus den Regalen in den Geschäften verschwunden?‘, erklärten sie: 'Eine große Menge Backwaren ist nicht ihrem eigentliche Zweck zugeführt worden.‘ Was wollten sie damit sagen? Daß Kekse dazu benutzt wurden, illegal Schnaps herzustellen? Eine andere Frage lautete: 'Was ist mit all den Rasierklingen passiert?‘ Die Antwort: 'Wir haben inzwischen weniger Wodka im Angebot. Also hat die Bevölkerung Millionen von Rubeln zur Verfügung, die sie nicht ausgeben kann. Daher hat sie damit begonnen, diese für andere Gegenstände oder Lebensmittel einzusetzen.‘ Was soll das heißen? Haben Menschen, die nun keinen Wodka mehr bekommen, aus schlichter Verzweiflung angefangen, sich häufiger zu rasieren?“
„Ogonjok“ bedeutet übersetzt „kleines Feuer“, und die Leser haben den Namen ihrer Zeitschrift wörtlich genommen. Sie haben kleine Feuer unter den Stühlen von Bürokraten und Ewiggestrigen entzündet und 'Ogonjok‘ zu einer demokratischen Kontrollmacht entwickelt. Zwei Beispiele.
Bei einer Fernsehübertragung aus dem Obersten Sowjet beobachtet ein Zuschauer während einer Abstimmung, daß ein Abgeordneter gleich auf zwei Knöpfe drückt. Er hat für seinen abwesenden Kollegen mitgewählt. Die Veröffentlichung dieser Beobachtung in 'Ogonjok‘ löst Tage später im Parlament eine hitzige Diskussion aus.
Beispiel zwei: 'Ogonjok‘ veröffentlicht - trotz Repressalien des KGB - den ersten Brief in der Sowjetpresse, der sich kritisch mit dem Geheimdienst auseinandersetzt. Nachdem Hunderte von weiteren Briefen eine Aufarbeitung der KGB-Vergangenheit fordern, bricht ein ehemaliger Hauptmann das Schweigen. Eine lebhafte Debatte beginnt. Es sollte nicht die letzte bleiben, die die 'Ogonjok'-Leser in Gang setzten.
Nachbemerkung: Momentan kämpft die KPdSU anscheinend ihren Todeskampf. Davon ist auch 'Ogonjok‘ betroffen. Es ist geplant, diese und andere Reform-Zeitschriften in einem gemeinsamen Konzern mit der Parteizeitung 'Prawda‘ zu vereinigen. Die 'Ogonjok'-Redaktion ringt ums Überleben.
Peter Tomuscheit
Marina Albee, Christopher Cerf, Witalij Korotitsch (Hg): Die neue Freiheit. Gorbatschows Politik auf dem Prüfstand Leserbriefe an die Zeitschrift 'Ogonjok‘. List-Verlag, 34 DM
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen