: Der Schreck kam am Marie-Blanque
■ Greg LeMond, Favorit der Tour de France, geriet nach einer Reifenpanne auf der 17. Etappe in gelinde Panik / Sieg für Dimitri Konishew / Claudio Chiappucci verteidigte die Gesamt-Führung
Berlin (taz) - Vor der 17. Etappe der Tour de France über 150 Kilometer von Lourdes nach Pau war allgemein ein ruhiges Rennen erwartet worden. Zwar stand der gefürchtete Paß des Aubisque (1.709 Meter) auf dem Programm, aber der war am Anfang zu bewältigen, danach ging es über den eher harmlosen Marie-Blanque (1.035 Meter) sanft hinunter nach Pau.
Bis zum Aufstieg zum Marie-Blanque lief auch alles nach Plan. Claudio Chiappucci, der Träger des Gelben Trikots, fuhr in einer Gruppe mit seinen Verfolgern LeMond, Delgado und Breukink, und alle beschränkten sie sich darauf, aufzupassen, daß nicht irgendeiner klammheimlich entwischen würde. Plötzlich wurde es jedoch dramatisch. Greg LeMond, in der Gesamtwertung fünf Sekunden hinter Chiappucci und designierter Gewinner dieser 77. Tour de France, hatte eine Reifenpanne. Von seiner Mannschaft war erstmal weit und breit niemand zu sehen und auch der Materialwagen benötigte einige Zeit, bis er sich zu dem Amerikaner durchgekämpft hatte. Erst nach 1:27 Minuten konnte der Schaden behoben werden. Inzwischen waren LeMonds Helfer eingetroffen und vom Rad geklettert, um auf ihren Boß zu warten, und dann begann die wilde Aufholjagd.
Bei den Konkurrenten um den Gesamtsieg herrschte derweil eine gewisse Konfusion. Zum einen befanden sie sich in einem moralischen Konflikt, da es eigentlich als unfein gilt, die Panne eines anderen Fahrers schamlos auszunutzen. Zum anderen war klar, daß vor allem Chiappucci kaum eine bessere Gelegenheit bekommen würde, seinen Vorsprung auf LeMond auszubauen. Delgado wiederum, der ja 3:42 Minuten Rückstand auf das Gelbe Trikot hat und bei dem gesundheitliche Probleme als Grund für seine offenkundige Formschwäche vermutet werden, war sich im Klaren, daß er im Grunde nur dem Italiener helfen würde, wenn er gemeinsame Sache mit ihm machte. Heraus kam ein halbherziger Ausreißversuch der Beiden, welcher LeMond nichtsdestotrotz heftig in Rage versetzte. „Ich habe Delgado und Chiappucci gesagt, daß ich ihnen nie vergessen werde, was sie mir angetan haben“, zürnte er noch Stunden später. „Man greift keinen Fahrer an, wenn er einen Defekt hat.“
Geschadet hat es ihm schließlich nichts. Nach dem er inmitten seiner Helfer den Marie-Blanque erklommen hatte, bewies LeMond einmal mehr, daß er einer der besten Abfahrer der Tour ist. Schon auf der 13. Etappe hatte er sich wie ein Habicht hinunter nach Saint-Etienne gestürzt und seinen Verfolgern Sekunde um Sekunde abgeknöpft, diesmal legte er sogar noch einen Zahn zu und absolvierte eine der kühnsten Sturzfahrten, die die Tour de France je gesehen hat. Im Stile eines Pirmin Zurbriggen raste er die elf Kilometer ins Tal hinab und erreichte dabei Spitzengeschwindigkeiten vom mehr als einhundert Stundenkilometern. 51 Kilometer vor dem Ziel hatte er die Gruppe um Delgado und Chiappucci wieder eingeholt. Einträchtig kamen die großen dieser Tour ins Ziel, 5:31 Minuten hinter dem Sieger Dimitri Konishew, dem ersten Sowjetprofi, der eine Touretappe gewann.
Chiappucci hatte seinen Fünf-Sekunden-Vorsprung mit jener Zähigkeit behauptet, die er während der gesamten Tour an den Tag gelegt hatte, und glaubte weiter fest an seinen Gesamtsieg. Im Gegensatz zu den meisten Fachleuten zeigt er sich überzeugt, LeMond auch beim Zeitfahren von Lac de Vasseviere am Samstag auf der vorletzten Etappe Paroli bieten zu können.
LeMond dagegen hat nach dem Schreck vom Marie-Blanque ein Gutteil seiner Zuversicht eingebüßt. „Das war eine perfekte Demonstration, daß bei der Tour nie irgend etwas sicher ist“, sagte er in Pau und fügte hinzu: „Ich fühle mich psychisch viel erschöpfter als physisch. Eine Panne im falschen Moment oder ein Sturz und 'auf Wiedersehen, Tour‘.“
Matti
17. Etappe: 1. Dimitri Konishew (UdSSR) 4:08,25; 2. Johan Bryneel (Belgien) 0:01 Minuten zurück; 3. Steve Bauer (Kanada) 0:11; 4. Jean-Claude Colotti (Frankreich) 0:32; 5. Davide Casani (Italien); 6. Reynel Montoya (Columbien) alle gleiche Zeit; 7. Pascal Simon (Frankreich) 0:34; 8. Dominique Arnault (Frankreich) 0:53; 9. Laurent Biondi (Frankreich) 2:59; 10. Peter de Clercq (Belgien) 3:38; ...87. Uwe Raab (DDR) 14:23 Minuten zurück; 91. Olaf Ludwig (DDR) 14:23; 92. Jan Schur (DDR) 14:23; 136. Mario Kummer (DDR) 19:20; 148. Andreas Kappes (Bremen) 19:20
Gesamtklassement: 1. Claudio Chiappucci (Italien) 73:41,46; 2. Greg LeMond (USA) 0:05 Minuten zurück; 3. Pedro Delgado (Spanien) 3:42; 4. Eric Breukink (Niederlande) 3:49; 5. Marino Lejaretta (Spanien)5:29; 6. Gianni Bugno (Italien) 7:48; 7. Eduardo Chozas (Spanien) 7:49; 8. Claude Criquielion (Belgien) 8:40; 9. Andrew Hampsten (USA) 9:34... 89. Kummer 1:36,20 Stunden; 90. Raab 1:37,52; 107. Schur 1:50,02; 140. Cappes 2:26,54; 143. Ludwig 2:20,36
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