Haben Polikliniken eine Zukunft?

■ Professor Harald Mau, Charite-Chef und Mitbegründer des Virchow-Bundes, ist optimistisch

taz:Im November 1989 ist der Virchow-Bund als erste Ständevertretung der Ärzte in der DDR mit dem Ziel gegründet worden, „ein humanes und gleichzeitig wirtschaftliches Gesundheitswesen“ zu befördern, in dem u.a. die ärztliche Selbstverwaltung etabliert wird. Was wurde erreicht?

Prof. Mau: Hinsichtlich der Selbstverwaltung haben wir erreicht, daß im Dezember die Wahl zu einer Gesamtberliner Ärztekammer stattfinden wird. Für die über 5.000 Ostberliner Ärzte ist die Wahl eines Organs, das einen Teil der Rechte und Pflichten des Staates übertragen bekommt, ein Novum. Der Virchow-Bund ist kein Verband geldgieriger Ärzte, stellt nicht das individuelle Wohlergehen des Arztes weit in den Vordergrund. Der Arzt ist kein „normaler“ Gehaltsempfänger, der nur für seine Arbeitsstunden bezahlt wird. Es kann durchaus sein, daß ein Arzt gegenüber der Gesellschaft eine große Verantwortung wahrnimmt und das von ihr finanziell vergleichsweise gering honoriert bekommt. Dieses Defizit kann durch ein hohes gesellschaftliches Ansehen aufgewogen werden.

Diese Vorstellungen zu realisieren, würde bedeuten, letztendlich auch das Gesundheitssystem in der Bundesrepublik zu reformieren, daß für alle Beteiligten sehr teuer ist.

Das wäre eine vordergründige Betrachtung. Die niedergelassenen Ärzte, die in der Bundesrepublik im Wesentlichen die ambulante medizinische Betreuung gewährleisten, sind innerhalb des Gesundheitswesens unternehmerisch tätig. Doch die Interessenvertretungen der niedergelassenen Ärzte sind deshalb nicht reine Geldbeschaffungsinstitutionen. Daß niedergelassene Ärzte im Gegensatz zu den angestellten arbeiten, um viel Geld zu erhalten ist ein ganz falsches Klischee.

Nach vorsichtiger Schätzung westdeutscher Ärzte stehen rund 60 Prozent der bundesdeutschen Arztpraxen - gebeutelt auch von der Gesundheitspolitik - betriebswirtschaftlich am Rande des Bankrotts. In dieser Situation scheint unbestritten, daß gerade in den freien Niederlassungen wirtschaftliche Zwänge das ärztliche Ethos gefährden. Auch von daher ist der Vorschlag des Virchow-Bundes einleuchtend, ausgehend von der Entwicklung des Gesundheitswesens in der DDR die ambulante medizinische Versorgung künftig gleichberechtigt durch Ärzte in freier Niederlassung und Ärzte in aus den bisherigen Polikliniken und Ambulatorien hervorgehenden „neuen Organisationsformen mit differenzierter Träger- und Finanzierungsform“ sicherzustellen.

Daß Ärzte in freier Niederlassung unter bestimmten Bedingungen dem Patienten gute Medizin bieten können, ist bewiesen. Ich behaupte, daß das auch unter anderen Bedingungen möglich ist, vielleicht sogar besser. Ich stelle nicht das Recht des Arztes auf freie Niederlassung in Frage. Wir sind viel zu stolz darauf, das endlich durchgesetzt zu haben. Doch mein Credo gilt: Der Arzt, der gezwungen wird, sich niederzulassen, ist genauso unfrei wie der, dem es verboten wird. Fakt ist, daß 95 Prozent der Leistung des ambulanten Gesundheitswesens bisher in Polikliniken und Ambulatorien erbracht werden. 20.000 auf dem Gebiet der DDR ambulant tätige Ärzte können nicht mit einem Schlag in die Niederlassung gehen. Das wäre ein ökonomischer Kraftakt, daß selbst Minister Blüm dabei eine weiße Nase kriegen würde.

Es wünschen auch nur knapp über 20 Prozent der ambulant tätigen Ärzte die freie Niederlassung. Aber die Existenz der Polikliniken, so wurde offiziell verlautbart, sei nur noch bis Ende 1990 garantiert.

Der Termin 31.12. steht nirgends, wird nur immer wieder gehandelt. Der Staatsvertrag spricht von „vorläufiger Fortführung der derzeitigen Versorgungsstrukturen“. Und „schrittweise“ wird eine Veränderung in Richtung des Versorgungsangebots der Bundesrepublik mit privaten Leistungsanbietern vorgenommen, „insbesondere durch Zulassung von niedergelassenen Ärzten, Zahnärzten und Apothekern“. Dazu ist der Vorschlag des Virchow-Bundes, daß alle ambulant tätigen Ärzte - ob in freier Niederlassung oder in anderen Organisationsformen - in der Kassenärztlichen Vereinigung , die das gesetzlich geforderte Instrument der Finanzierung des Gesundheitswesens ist, organisiert sind. Die Kassenärztliche Vereinigung muß mit den Kassen darüber verhandeln, daß die Leistungen der Nachfolger von Polikliniken - etwa eines Gesundheitszentrums in Form einer GmbH oder Stiftung, an der sich die Kommune, die Ärzte selbst, Wohlfahrtsverbände, Caritas oder andere Investoren beteiligen - bezahlt werden. Allerdings würden wir einen Dissenz zur Situation in der Bundesrepublik vorprogrammieren, wenn der Erhalt von Polikliniken und Ambulatorien , genauer gesagt ihrer Nachfolger, vom Staat bezahlt würde. Das ist nicht notwendig. Wenn Polikliniken ökonomisch gut geführt werden, sind das ausgesprochen leistungsfähige und auch patientenfreundliche Einrichtungen mit Röntgengerät, Labor, Physiotherapie an einem Ort. Wir haben das bis auf den Pfennig unter Berücksichtigung neuer Festpreise - Miete, Wassergeld usw. - durchgerechnet, auch für Großpolikliniken mit 46 ärztlichen Arbeitsplätzen. Es wäre doch ein Wahnsinn, aus diesen Investitionsobjekten von 16 Millionen Mark Kaufhallen zu machen und daneben fünf Einzelpraxen zu errichten. Ein niedergelassener Arzt in der Bundesrepublik braucht für die Führung seiner Praxis im Jahr rund 380.000 DM. Verglichen mit den Kosten eines ärztlichen Arbeitsplatzes in einer Poliklinik - bei Berücksichtigung der verschiedenen Finanzsysteme - würde letztererfür den Geldgeber möglicherweise günstiger sein. Diesen Beweis müssen wir erbringen.

In der Gebührenordnung, nach der in der Bundesrepublik medizinische Leistungen abgerechnet werden, sind bestimmte Leistungen , die in den Polikliniken erbracht werden - z.B. Zahnersatz, Kuren, Arzneimittel, Schwangerschaftsberatung, Krankenfahrten- nicht erfaßt.

Der Virchow-Bund hat schon im vorigen Jahr gefordert, daß bestimmte Leistungen - auch der präventiven Medizin abrechenbar gemacht werden, damit sie bezahlt werden können.

Wie reagierten die Kassen der Bundesrepublik, die ihr Netz auf das Gebiet der DDR erweitern wollen, auf diese Forderung?

Man muß die Struktur der Kassen in der Bundesrepubilk kennen, um zu wissen, mit wem man über was reden kann. Das plurale, gegliederte System der Krankenkassen ist unsere Chance, um für bestimmte Leistungen Geldgeber zu interessieren.

Irina Grabowski