: Kollaps des Sozialamtes droht
■ Fehlerhafte EDV, falsche Bescheide / Notmaßnahme: eine Woche publikumsfrei
Sie erscheinen als HerrInnen über Sozialhilfe, Kleidergeld und Feuerungszulage, als mächtige VerwalterInnen von Kühlschrank-Zuschüssen und Wintermantel-Schecks: die SachbearbeiterInnen und BeraterInnen im Sozialamt. Aber sie selbst sehen kein Licht mehr am Ende des Tunnels. Mit drastischen Drohgebärden gingen gestern die ÖTV -GewerkschafterInnen an die Presse. Sie wollten auf die tägliche und inzwischen eben auch alltägliche Misere in den bremischen Sozialämtern aufmerksam machen. Denn nur, daß eine, irgendeine Sozialhilfe monatlich auf den Konten der EmpfängerInnen landet, das Allernötigste also, ist gerade noch gewährleistet. Daß der überwiesene Betrag dann auch stimmt, daß der Bescheid überhaupt korrekt ist, daß nicht reihenweise berechtigte Ansprüche durch schlichte Nichtbefassung erledigt werden, das scheint längst niemand mehr garantieren zu können.
Eigentlich soll eine Sachbearbeiterin „92,5 Fälle“ bearbeiten, rechnete die ÖTV gestern vor. „Fälle“ heißt Akten, die für eine oder zwei Personen, manchmal auch für vielköpfige Familien stehen. 130 solcher Akten, auch schon mal 260, sind pro MitarbeiterIn inzwischen zu verwalten. Und daraus errechnete die ÖTV ein Defizit von 34 Stellen. 17 davon sind bewilligt, wenige sind besetzt, noch keine der neuen KollegInnen arbeitet bereits oder ist in die komplizierte Materie eingeführt und echte Entlastung.
Was mit dem „steinzeitlichen EDV-System“, so die Personalratsvorsitzende im Sozialamt, Wiebke Rendings, jedenfalls zuverlässig vorprogrammiert ist, sind ganze Serien von Pannen und zusätzlichen Arbeitsstunden. Das System ist unbestritten alt, schlecht - und fehlerhaft. Bis die neuen Geräte und Programme („Prosoz“) fertig und eingeführt sind, werden noch zwei Jahre vergehen. „Wir weisen bei jedem Bescheid darauf hin, daß er vermutlich fehlerhaft ist“, erklärte ÖTV-Geschäftsführer Holger Aebker, „und im Herbst erwarten wir die große Lawine der Widersprüche.“ Bis dahin ist das Chaos perfekt. Die EDV -Bescheide werden in den Sozialämtern per Hand und Taschenrechner nachgerechnet, die Bremer „Bestandsschutzregelung“ ist ohnehin im Programm nicht vorgesehen und wird handschriftlich ergänzt. Zum 1.7. gab es neue Regelsätze und Berechnungsgrundlagen: Sämtliche Unterlagen müßten nun überarbeitet und korrigiert werden. Wiebke Rendings: „Von der eigentlichen Aufgabe, die Menschen richtig zu beraten, ist keine Rede mehr.“
Als Notmaßnahme fordert die ÖTV eine Woche publikumsfrei zum Aufarbeiten der Akten und zur Fehlerbeseitigung und droht, Abteilungen zu schließen. Davon aber will die Behörde nichts wissen - höchsten ein Tag wöchentlich sei drin. In einem gestern noch verfaßten Brief an die „lieben Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter“ wird heruntergerechnet: Nicht 34, nur 10 Stellen fehlen derzeit, „das sind 3%“. Das Rechenzentrum wurde personell aufgestockt. Und man wisse auch, „daß viele von Ihnen die Arbeit mit hoher Motivation und Engagement erledigen“. S.P
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