: ANSICHTEN VON TIRANA
■ Ansichten von Tirana
Albanien vor
dem Sommer
VON MARTIN VOGT
Ja auf albanisch heißt „po“ und wird durch eine Art bedächtigen Kopfschüttelns ausgedrückt, verneint hingegen wird mit dem Wort „jo“ und körpersprachlich durch Nicken. Eine Regelung, die Enver Hoxha ersonnen haben könnte, um sein Volk zu isolieren, doch womöglich geht sie auch bis auf die antiken illyrischen Stämme zurück, die auch erfolgreich ihre Identität gegen Griechen und Römer bewahrten.
Der Balkan ist anders, wird behauptet, und Albanien ist ganz anders. Die Eigenart dieses Landes aus einem diffusen Stalinismusbegriff erklären zu wollen, hilft kaum weiter, denn was immer man darunter verstehen mag, hier hat es von der Eigentümlichkeit des Landes die eigentümliche Form. Der Reisende fühlt sich irritiert und belustigt. Fremdes, wenn es nicht ängstigt, kann belächelt werden. Die drolligen kleinen Betonbunker sind gleich das erste. Kein Weg führt ins Land, der nicht an ihnen vorbeiführt. Martialisch und zugleich reichlich antiquiert stehen sie buchstäblich überall: an Straßen, auf Berghängen und Feldern, ohne Zahl und ohne Nutzen. Bilder entstehen, die geradezu aufdringlich alle Klischees bedienen: In südlicher Landschaft stehen zwischen den Feldern die Bunker im Hintergrund, auf der Straße treibt ein magerer halbwüchsiger Junge einen schwerbeladenen Esel vorbei an verwitterten Tafeln, die auch dem Sprachunkundigen lesbar den Marxismus-Leninismus und die Regierung preisen sowie zum Kampf gegen Bürokratie und Liberalimus aufrufen. Die Felder ringsum sind mit unendlicher Mühe und Sorgfalt terrassiert und bewässert, Frauen mit weißen Kopftüchern schneiden mit Sicheln das Getreide.
Albanien im Jahr 1990.
Tirana ist eine Stadt am Rand des Gebirges, und die Berge stehen wie eine etwas protzig geratene Kulisse im Hintergrund. Die Berge sind aus Lehm und Kalk, das Land ist aus Lehm und Kalk, Lehm und Kalk bilden offensichtlich auch das bevorzugte Baumaterial. Der größere Teil Tiranas mutet wie eine hypertrophierte Kleinstadt oder ein Dorf an. Niedrige Häuser hinter hohen Mauern, Gärten, die von Wein überrankt sind und im Schatten liegen, wenn von Mittag an die Hitze die Straßen veröden läßt. Das Leben beginnt gegen 4Uhr nachmittags wieder und währt dann bis in die Nacht!
Die Metropole und
die Auswanderer
Wenn der Tourist, Opfer seiner mitteleuropäischen Lebensgewohnheiten, ganz erschöpft im Hotel sitzt und schon vor einer Weile die Dämmerung mit sozusagen tropischer Geschwindigkeit über das Land hereingebrochen ist, spielen in der Nacht draußen noch auf den Straßen die Kinder. Im Restaurant tritt ein Folklore-Ensemble auf, Tanz und Gesang, von der Hotelband begleitet. Unter den Reisegruppen und Dienstreisenden fällt eine Gruppe modisch gekleideter, junger und außerordentlich selbstbewußter Albaner auf, die geradezu mit forcierter Begeisterung Anteil an diesem Auftritt nehmen. Die örtliche Schickeria? Kinder irgendwelcher Funktionäre vielleicht? Dieses Hotel ist ungefähr der weltstädtischste Ort der Stadt, und unter den anderen Gästen deutet sich eine gewisse Distanz an.
Später stellt sich heraus, es sind Kosovo-Albaner. Sie machen gewissermaßen patriotische Pilgerfahrten hierher und beschwören die Einheit eines geteilten Volkes. Ein Albaner aus Tirana, darauf befragt, antwortet ausweichend. Vielleicht sei das mit den Deutschen so ähnlich. Die kämen doch nun auch zusammen, und das sei gut so. Albaner gäbe es überall. Drei Millionen im Land und genausoviel außerhalb. Wo? In Jugoslawien bekanntlich. Außerdem in Griechenland und Italien. Die seien da schon seit Jahrhunderten. Und dann wären Albaner außerdem in alle Welt ausgewandert. Nach Amerika, nach Australien, überallhin.
Nun, in diesem Jahr wird man wieder auswandern. In den Häusern, die dem Touristen so gefallen, leben zum Teil vierköpfige Familien in Einzimmerwohnungen. Ein Kühlschrank oder eine Waschmaschine seien ganz unerschwinglich. Die Frau sei krank, und man könne dem Arzt nicht trauen. Und nicht so laut sprechen, bitte.
Vor nicht allzulanger Zeit war allein der Kontakt mit einem Ausländer ohne ausführliche, vorherige Genehmigung schon ein Verbrechen. Jetzt sei das eigentlich nicht mehr so, doch ob die Leute das wissen? Und die von der Geheimpolizei Sigurimi? Der Reisende ist geneigt, an Wichtigtuerei zu glauben. Schließlich wird er allenthalben angesprochen und nach seiner Nationalität befragt. English? Fran?ais? Gibt er schließlich seine Herkunft preis, folgt unweigerlich der Ausruf: „Ah, Matthäus! Beckenbauer! Völler!“
Unschwer ist zu erraten, wann diese Szenen sich abspielen, die so recht geeignet wären, das Herz des deutschen Touristen zu erfreuen: Eingeborene huldigen dem deutschen Wesen durch die Anbetung seiner hervorragendsten Vertreter doch hierher kommen in aller Regel etwas andere Reisende, und so einer versucht nun allen Ernstes, dem Albaner die Schattenseiten jener fernen Paradiese anzudeuten, über die hier so fatale Illusionen bestehen. Der Albaner hält mit, und es entwickelt sich eine Art antipatriotischer Wettkampf, in dem jeder bemüht ist, dem anderen in gebrochenem Italienisch die Nachteile des eigenen Landes zu verdeutlichen.
Was veranlaßt den Touristen zu derartigen Anwandlungen? Zu diesem Zeitpunkt sind in etlichen der über die ganze Stadt verteilten Botschaften bereits Flüchtlinge. Grimmige Männer in Uniform oder Zivil stehen da in Gruppen, beauftragt zu verhindern, was nicht zu verhindern ist. Es wird noch versucht, die Angelegenheit ohne übermäßiges Aufsehen zu regeln. Die deutsche Vertretung ist zu diesem Zeitpunkt noch nicht betroffen.
Ich habe Stalin gesehen. Sein Abbild, ihn darstellend. Vielleicht hat es dort, wo es steht, die längste Zeit gestanden, doch als ich da war, war es auch noch da. In Napoleon-Pose und mit Paralytikergesicht, eigentlich wäre es schade um dieses Zeitzeugnis, doch derart kulturhistorisch -feinsinnige Gründe werden keine Rolle spielen. Ich jedenfalls habe ihn mir angesehen, und aufgefallen ist mir, daß Stalin, soweit ich mich entsinne, fast immer mit der Vitalität eines Eisblocks präsentiert ist.
Väterchen Frost
und örtliche Dandys
In dem Land, das ihm als einziges in Europa noch Denkmäler bewahrt hat, hat Stalin eigentlich höchst mittelbar gewirkt, hauptsächlich dadurch, daß sich Enver Hoxha in den parteiinternen Gemetzeln und Intrigen kurz nach dem Krieg von Stalin protegieren ließ und ihm dann, gewissermaßen albanischen Ehrbegriffen folgend, bis zu seinem eigenen Tod 1985 postum die Treue hielt. Und nun steht dieses Denkmal da, und es ist fast schon nicht mehr vorstellbar, daß es abgesehen von Touristen und abgesehen von denen, für die sich hier Verwundungen symbolisieren - noch jemand kümmert. Im Park hinter seinem Rücken fahren Großväter ihre Enkel in hölzernen Kinderwagen herum, Mädchen in schwarzen Schulkleidern reden mit ernsten Gesichtern aufeinander ein, und Männer gehen Arm in Arm. Zur Begrüßung küssen sie sich regelrecht zärtlich. Ein Vorgang, den der verblüffte Reisende sogar bei Polizisten in Uniform wahrnehmen durfte. Man trinkt eine grüngelbe, süßsaure Limonade, und die örtlichen Dandys versuchen durch exorbitantes Herumstolzieren Eindruck zu machen.
Dem Park und Stalin gegenüber, auf der anderen Seite der Straße, steht ein Lenin, die Mütze in der Hand zerknüllend, mit Blick auf den Generalissimus in die Pose eines ewigen Aufrufs verbannt. Dazwischen bewegt sich, dünn und doch lärmend, der örtliche Straßenverkehr: Dienstlimousinen der Marken Fiat und Peugot (Privatwagen gibt es in Albanien nicht), uralte sowjetische und chinesische LKWs, Fahrräder, Touristenbusse.
Mitten in Tirana erhebt sich ein ungewöhnlich modernistischer Bau, der nicht nur äußerliche Ähnlichkeit mit einer Pyramide aufweist. Wenngleich der Staatsgründer anderswo, beim Monument der Mutter Albania über der Stadt nämlich, begraben ist, hier befindet sich die zentrale Stätte seiner Vergötterung. Ein Museum ist das, in dem des teuren Toten sämtliche Taschenuhren ausgestellt werden, seine Revolver und sein Schreibgerät. Seine Werke, einschließlich der Übersetzungen in Fremdsprachen, werden präsentiert und ein Teil seiner Bibliothek. Drei Bände Descartes in diesem Sammelsurium geben dem Besucher zu denken, doch was eigentlich kann Descartes dafür? Der Aufwand, mit dem Geschichte um eine Person herumgruppiert ist, steht in schreiendem Gegensatz etwa zum archäologischen Museum der Hauptstadt, wo Exponate aus zweieinhalb Jahrtausenden in einem staubigen Halbdunkel versinken. Hier hingegen fehlt es an nichts. Bester westlicher Standard wird angestrebt und erreicht. Auf Bildschirmen und Projektionsflächen flimmert es, in einer Abteilung geraten mehrere Tonaufzeichnungen von Reden, nebeneinander abgespielt, zur grotesken Collage. Den krönenden Abschluß bildet die Videoinszenierung von - augenscheinlich - des Herrschers Abschied vom Amt.
Ein Museum für den teuren Toten
Zu sehr schöner und sehr trauriger Musik ist Enver Hoxha am Schreibtisch zu sehen (der Schreibtisch steht als Exponat ein Stück weiter), er nimmt etwas Geschriebenes zur Hand (ein Stück weiter liegen kolossale Lesegläser, die von rapide verfallenem Sehvermögen zeugen), er schreibt eine Bemerkung dazu, zögert, schreibt mit wichtigem Gesicht noch etwas (und schreibt augenscheinlich direkt über das bereits Geschriebene), zögert, winkt ab, stellt einen dar, der nicht mehr weiß, was er noch darstellen soll. Aber der Kaiser ist ja blind!
Im Foyer wird versucht, den Touristen Übersetzungen der Werke Enver Hoxhas und Fotos vom Museum für Dollar zu verkaufen.
Irgendwann wird die Unwirklichkeit dieser Stadt unübersehbar. Und dann dauert es nicht mehr lange, und sie schmerzt einen. Hier ist eine Epoche, die schon vergangen ist. Und auch hier vergeht alles schon. Eine Welt, über die die verdrängte Wirklichkeit sich eben herzufallen anschickt. Letztes und hinterstes Land des versinkenden Ostens. Die ärmste Gegend Europas seit hundert Jahren. Nach dem Krieg hat sich die Lebenserwartung verdoppelt und die Bevölkerung auch. Wer was von der Welt wissen will, hört Radio oder sieht das jugoslawische oder italienische Fernsehen. Man könne doch jetzt auch reisen, nicht wahr? Man glaube es noch nicht.
Das ist alles vorbei hier.
Europa ist
anderswo
Fabrikhallen mit zerschlagenen Fenstern, alte Weiber in traditioneller Kleidung verkaufen Blutegel auf dem Markt. Morgens kriecht der Petroleumqualm durch die Straßen. Europa ist anderswo, wenn es überhaupt noch irgendwo ist, denkt der Tourist zuerst mit gelindem Entzücken. Und die Freundlichkeit der Menschen lobt er, wie ein Konsument den Gebrauchswert einer Ware lobt. („Sie sind wie die Kinder. Nur die Kinder selbst nicht - die sind schon manchmal richtige kleine Ganoven.“) Auch die Landschaften: Nach Süden hin sind sie schön, wie Landschaften nur sein können. Es gibt Palmen, Agaven, Zitrusbäume, Mimosenbäume. Und im Gebüsch schreien Zikaden, als ob sie dafür bestellt wären. Die Adria ist blau vor Durres, und das Ionische Meer ist blau vor Saranda. Pobieren Sie den Kognak, und probieren Sie auch das Olivenöl.
Die mühselige Arbeit auf den Feldern nimmt der Reisende im Vorbeifahren wahr, und dem mitleidigen Ärger über die anachronistischen Zustände folgt die Überlegung, daß der Einsatz moderner Technik wenigstens zwei Drittel der hier Tätigen arbeitslos machen wird. Der Reisende stellt Überlegungen hinsichtlich der Gründe seiner impulsiven traurigen Zuneigung zu diesem Land an. Er führt sie auf seine Kindheit in der DDR der sechziger Jahre zurück.
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