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Geschichte l livehaftig

■ Die Inszenierung großer Historie als touristische Attraktion

Von

MICHAEL BIENERT

ächtelang hielten sie durch, auf die rot-weißen Absperrgitter gestützt, wachgehalten vom monotonen Klingkling der Hämmer. Sie waren von weit her gereist, um in der Novemberkälte zu warten. Dann kamen die Fernsehteams und fragten, warum sie hier seien. Und sie antworteten: „Weil man hier Geschichte live erlebt.“

Die Szene flimmerte über den Bildschirm, sie wiederholte sich, mit wechselnden Gesichtern, live, versteht sich.

Nebenan florierte der Handel mit Nippes. Die Händler paßten ihr Angebot schnell der neuen Lage an, so als wollten sie die Überlegenheit der freien Marktwirtschaft unter Beweis stellen. Kaum war der historische Tag verstrichen, verkauften sie T-Shirts, Echtheitszertifikate für Bauch und Brust, mit der Aufschrift: „9. November 1989 - ich war dabei!“

Die Mauer, Volkseigentum aus Ostbeton und Westfarbe, wurde bröckchenweise in Privateigentum überführt. Das Angebot wuchs, die Preise sanken. Vergeblich versuchten ein paar Historiker, wenigstens ein Fragment dieses authentischen Geschichtszeugnisses und Gesamtkunstwerks für die Nachwelt zu retten. Von dem am Gestapo-Gelände erhaltenen Torso, dem letzten im zentralen Bereich, ist inzwischen nicht mehr viel übrig. Der Trieb, selber Hand an die historische Substanz zu legen, hat sie in kürzester Zeit ruiniert.

Das westliche Revolutionspublikum hat zwar historisch nichts bewegt, dennoch verspürt es einen mächtigen Drang zur Geschichte. Es will mittun, freilich: ohne etwas zu riskieren. Es hortet Mauerbrocken, Parteiabzeichen und Uniformmützen, um sie zu Hause im Wohnzimmerschrank einzulagern. Vielleicht will es mit den Geschichtsreliquien einmal seinen Enkeln imponieren. Jedenfalls führen sich die Zaungäste der Revolution auf wie die Sieger einer Schlacht, die sie gar nicht geschlagen haben. Den Akteuren aus dem Osten, die im Herbst ihren Kopf hingehalten hatten, bleibt die Rolle der stummen Verlierer.

Der Run auf Geschichte ist geschichtsblind und gedächtnislos; blindwütig zerstört er die Anhaltspunkte des kollektiven Gedächtnisses. Kaum war das Brandenburger Tor offen, wurde es schon beschmiert. Was an Schadows Quadriga nicht niet- und nagelfest war, wurde in der Silvesternacht abgerissen. Unter den Augen der Touristen wird nun alles restauriert.

In zwanzig Jahren wird irgendwo in Berlin für sehr viel Geld ein Segment der Mauer nachgebaut werden, nach alten Plänen, so originalgetreu wie möglich.

eschichte live erleben wollen - in diesen Worten ist das ganze Trauerspiel des üblichen Berlintourismus enthalten. Den Reisenden genügt es nicht, immer bloß vor der Glotze zu verfolgen, was in Berlin passiert. Sie suchen das Authentische, den Anhauch der Geschichte, den Nervenkitzel der Millionenmetropole. Aber ihre Erfahrung bleibt den Medienbildern verhaftet, mit denen sie jahrelang gefüttert wurden. Am liebsten lassen sie sich zeigen, was sie schon kennen. Sie schaukeln im Sightseeing-Bus durch die Stadt und sehen weniger von ihr als in einem schlecht geschnittenen Film. Sie gehen in die Theater, in denen die Fernsehlieblinge auftreten. Auf der Suche nach livehaftiger Geschichte fahren sie dorthin, wo im Herbst die Übertragungswagen postiert waren: zum Checkpoint Charlie, zum Brandenburger Tor, in die Bernauer Straße, auf den Potsdamer Platz.

Dort tut sich wenig. Die Verantwortlichen bemühen sich zwar, jede Etappe der lokalen Wiedervereinigung als „historisches“, das heißt überregional bedeutsames Medienereignis zu inszenieren; aber es sind nicht alle Tage sechs Außenminister in der Stadt, über deren Köpfen ein Grenzkontrollhäuschen medienwirksam entschweben kann.

„Hier ist ja nix los“, maulen die schwäbischen Schüler, mit denen ich auf dem Potsdamer Platz verabredet bin. Die Mauer ist verschwunden, der provisorische Grenzübergang verwaist. Ungehindert strömt Autoverkehr über den wüsten Platz. Auf dem ehemaligen Todesstreifen, über den unterirdischen Gängen des ehemaligen Führerbunkers, bauen Techniker die gigantische Anlage für Roger Waters‘ Wall-Spektakel auf. Das paßt nach Berlin, hier war man schon immer fürs Kolossale. Davon sind auch die Schüler beeindruckt. Aber ich habe meine Zweifel, ob sie - bereits überfüttert mit Eindrücken begreifen, was hier vorgeht. Wer länger in der Gegend wohnte, hatte sich daran gewöhnt, daß hier die Welt zu Ende war. Die Stadtansichten von hüben und drüben paßten nicht zusammen, sie verbanden sich nicht zu einer einheitlichen topographischen Karte im Kopf.

Jetzt ist ganz Berlin damit beschäftigt, sich neu zu orientieren. Das ist tatsächlich eine historische Umwälzung, die in die Alltagserfahrung von einigen Millionen Menschen eingreift. Der touristische Blick streift die Realgeschichte aber nur am Rande, denn er ist auf spektakuläre Ereignisse, Monumente, Symbole und Inszenierungen zentriert.

m Grenzgebiet drängen mit dem Zerbröckeln der jüngsten Bebauung ältere Vergangenheits spuren an die Oberfläche: Der Sockel eines Liebknecht -Denkmals, Straßenpflaster, Betonplatten über Eingängen in den Untergrund, die rostroten Spuren von Straßenbahnschienen im Sand. Die Spuren zu lesen bereitet selbst den Einheimischen Mühe. Sie gehen unsicher über unbefestigten Boden. Sie bleiben stehen, blicken sich um, strecken die Hände aus. Unterirdisch rumpelt die S-Bahn wie der Nachhall einer fernen Epoche, als die Sandwüste am Tiergartenrand das Verkehrs- und Geschäftszentrum der Stadt war.

Offen gebliebene Wunden, die nicht zugepflastert wurden, wie der Potsdamer Platz, das Gestapo Gelände, das Regierungsviertel, die vielen nicht nur notdürftig bebauten Grundstücke mitten in der Stadt: an ihnen wird die jüngste Geschichte anschaulich wie sonst nirgendwo. Hier stellt sie sich als Schreckensgeschichte dar, als eine dichte Folge städtebaulicher, sozialer und politischer Katastrophen, deren Gewaltsamkeit noch sinnlich nacherlebt werden kann. Die Einschußlöcher aus den letzten Kriegstagen haben sich an manchen Fassaden erhalten. Die elenden Wohnbedingungen in der ehemaligen Mietskasernenstadt können noch besichtigt werden. Ein Blick über die Stadt zeigt die Folgen von Fehlplanung und Bodenspekulation, von Flächenbombardements und überstürztem Aufbau. Verschiedene, schnell aufeinanderfolgende Bauperioden überlagern und reiben sich eng beieinander. Der Stadtplan Berlins: eine historische Collage.

Die Überbleibsel des gelebten Lebens sind meist unansehnlicher als Prunkbauten und Denkmäler. Sie sind schwerer auf ihre Bedeutung zu entziffern. Sehenswürdigkeiten lenken den Blick von ihnen ab; fast immer dienen sie dazu, bereits verfälschte Geschichtsbilder zu beglaubigen.

Wer an Geschichte interessiert ist, dem entgeht nichts, wenn er Sehenswürdigkeiten und inszenierte Ereignisse meidet. Er erfährt am meisten über die gegenwärtige Geschichte, wenn er ein paar Tage lang aufmerksam den Berliner Alltag beobachtet. Falls er im Lesen historischer Spuren keine Übung hat, sollte er das Angebot an Spaziergängen, Bus- oder Dampferfahrten nutzen, die regelmäßig von verschiedenen Institutionen durchgeführt werden.

Geschichtliche Dynamik, vergangene und gegenwärtige, ist in dieser Stadt überall spürbar. Aber sie verschließt sich dem touristischen Blick.

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