: Funkstille im Technologiezentrum
■ „Zentrum für Forschung und Technologie“ in Köpenick als großer Verlierer bei der Zerschlagung des Kombinats Nachrichtenelektronik / Über 900 Mitarbeiter sind bereits entlassen
Köpenick. Auch die Kartoffeln des Stammessens schmecken nicht mehr: sie sind hart wie Gummibälle. „Wahrscheinlich ist der Koch schon entlassen“, vermutet einer der Kantinenesser im „Zentrum für Forschung und Technologie“ (ZFT) in der Köpenicker Edisonstraße. „Nein, nur die Küchenhilfskräfte“, korrigiert ein anderer.
In dem düsteren Backsteingebäude an der Spree herrscht Auflösungsstimmung. Büromöbel werden auf den Hof getragen und auf LKWs verladen. Um zu Karl Thielicke zu gelangen, der hier für Öffentlichkeitsarbeit zuständig ist, muß man sich an aufgetürmtem Büroinventar und alten Aktenordnern vorbeiarbeiten. In einem verwaisten großen Konferenzsaal erklärt Thielicke, daß von dem alten ZFT bald nicht mehr viel übrig sein wird. 900 der insgesamt 1.600 Beschäftigten seien bereits entlassen oder in den Ruhestand versetzt, der Rest werde bald von einem neu gegründeten Joint-Venture -Unternehmen übernommen, an dem der bundesdeutsche Branchenriese Standard Elektrik Lorenz (SEL) zur Hälfte beteiligt ist. Hauptsitz der neuen Firma wird ebenfalls Ost -Berlin sein. Früher, so erzählt Thielicke, war das ZFT ein Teil des 37.000 Mann starken Kombinats Nachrichtenelektronik und entwickelte unter anderem Funkanlagen, Telefonendgeräte und rechnergesteuerte Telefonvermittlungsanlagen Typ ENSAD. Auch das neue Joint-Venture werde Telekommunikationssysteme fertigen, wie zum Beispiel Mobilfunkgeräte.
Bei den Arbeitsplätzen sei man von den künftigen Arbeitsaufgaben ausgegangen, sagt Thielicke, und da habe es bei vielen im Hause an EDV- und Fremdsprachenkenntnissen gemangelt - Bedienungsanlagen für Geräte müssen fortan in Englisch geschrieben werden. Außerdem begründe sich die hohe Zahl der Entlassungen damit, daß im ZFT außer Leiterplatten und Schaltungen nichts produziert werde: „Unsere Forschungs und Entwicklungskräfte werden eben nicht benötigt“, resümiert Thielicke trocken die Situation. Gehen mußte auch die 35 Mann starke Bauabteilung des ZFT und viele Kräfte des Verwaltungsapparats.
Auf die Frage, warum denn die Telekommunikation in der DDR auf einem so miserablen Stand sei, anwortet Diplom-Ingenieur Thielicke, daß mangelnde Investitionen der Deutschen Post daran schuld seien. Außerdem sei viel der DDR -Nachrichtentechnik in den Export gegangen: Allein 80 Prozent der Vermittlungssysteme des alten Nachrichtenelektronik-Kombinats wurden ins sozialistische Ausland geliefert. „Eine Dienstreise nach Riga war nichts besonderes“, erinnert er sich.
Im Raum 2413 befindet sich die Personalabteilung. Enige der entlassenen Mitarbeiter warten vor der Tür, denn einige Bescheinigungen müssen noch auf die neuen West-Formulare übertragen werden. Laboringenieur Frank G. (36) hat zwölf Jahre in dem Betrieb gearbeitet und war in den letzten Jahren mit der Entwicklung von Funkgeräten beschäftigt, so dem Modell „UFS 600/700“. Seine gesamte Abteilung ist aufgelöst worden, als Abfindung hat er 6.000 Mark erhalten vor dem 30. Juni, also in Mark der DDR. Jetzt ist er auf Arbeitssuche: Bei der Deutschen Post hat er sich schon beworben, „da würde ich gerne arbeiten, wenn es irgendwie machbar ist“. Beim Arbeitsamt war er auch schon: „Die haben gar nicht erst den Computer eingeschaltet“, erzählt er. Auch eine 51jährige ehemalige Chefsekretärin hat auf dem Arbeitsamt bislang keinen Erfolg gehabt.
Fast alle Mitarbeiter haben ihre Kündigung ohne großen Widerspruch hingenommen, weiß Ulfried Wessely aus der Controlling-Abteilung, der ehrenamtlich als einer der provisorischen Betriebsräte amtiert. Nur eine „Handvoll“ habe dem offerierten Sozialpaket mit der Abfindungssumme bis zu 25.000 Mark nicht zugestimmt und habe zum Beispiel auf die normale dreimonatige Kündigungsfrist gepocht. In der DDR war bisher „Arbeitslosigkeit etwas Unnormales“, sagt der Gewerkschafter.
Wesselys Kollege in der Arbeitnehmervertretung, dem Betriebsratsvorsitzenden Gerhard Peters, stehen die vergangenen Monate deutlich ins Gesicht geschrieben. „Für mich war die ganze Zeit ein Trauma“, erklärt er. Jede einzelne Entlassung habe ihn mitgenommen, aber ein alternatives Rettungskonzept für den Betrieb fehle eben. „Ich weiß auch nicht, was man hätte besser machen können“, sagt er ein wenig ratlos. Unten, auf dem Hof, rangieren immer noch die Möbeltransporter.
Christian Böhmer
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen