piwik no script img

Ein Stück Vergangenheit

 ■ Die „ewig klingende Weise“ der Musikwissenschaft

Von Georg Meerwein

Im vergangenen Jahr ging eine Ausstellung durch mehrere Städte Deutschlands, Frankreichs, der Niederlande, Österreichs und der Schweiz, die ihren Anfang in Düsseldorf genommen hatte: fünfzig Jahre zuvor war dort im Rahmen der nationalsozialistischen Reichsmusiktage, welche die damals offiziell anerkannten Komponisten und deren (heute meist vergessene) Werke propagierten, eine Schau Entartete Musik gezeigt worden, die in ähnlicher Weise wie die Münchner Ausstellung von 1938 Entartete Kunst nahezu alle bedeutende zeitgenössische Musik als „kulturbolschewistisch“, „verjudet“ und „dekadent“ brandmarkte - Ausdruck der braunen Kulturpolitik, die letztlich zahllosen in Wahrheit fortschrittlichen Repräsentanten des deutschen Kulturlebens die wirtschaftliche, oft auch physische Existenz vernichtete.

In Erinnerung an diese unseligen Ereignisse haben Peter Girth, der Intendant der Düsseldorfer Symphoniker, und der Musikwissenschaftler Albrecht Dümling eine kommentierte Rekonstruktion jener Ausstellung aufgebaut, die den im Dritten Reich verfemten Musikern auch die damals geförderten und gefeierten Komponisten und ihre Interpreten und Befürworter gegenüberstellte.

Es war beschämend, anhand der ausgestellten Dokumente erfahren zu müssen, wie viele Musiker und Musikologen sich den Zielen und Zwecken der damaligen Machthaber gefügig gezeigt hatten oder sich doch von ihnen vereinnahmen ließen; beschämender noch, wie viele von ihnen auch nach 1945 nicht nur unbehelligt geblieben, sondern bald wieder zu Amt und Würden gekommen sind, einige von ihnen gar bedeutende Positionen im Musikleben oder im akademischen Lehrbetrieb bekleiden und somit weitreichenden Einfluß noch auf nachfolgende Generationen gewinnen konnten.

Wie weit im Einzelfall echte Überzeugung die Ursache oder „nur“ Opportunismus der Beweggrund gewesen sein mag, bleibe dahingestellt. Meist blieb es bei Rede und Schrift (Hans -Joachim Moser und Joseph Müller-Blattau beispielsweise); vereinzelt wurde aber auch selbst Hand angelegt: So versah Heinrich Besseler in der Heidelberger Universitätsbibliothek Werke „einschlägiger“ Autoren mit dem Judenstempel, Wolfgang Boetticher gar war behilflich bei der Beschlagnahme von persönlichem Besitz (Instrumente, Bibliotheken) emigrierter jüdischer Musiker in Paris (Darius Milhaud, Gregor Piatigoraky, Wanda Landowska).

Einer aber fehlte in der jetzigen Ausstellung - und er fehlt auch fast gänzlich in den mit diesem Sujet befaßten Büchern Musik im Dritten Reich von Joseph Wulf (Ullsteinbuch 33032), Musik im NS-Staat von Fred K. Prieberg (Fischer-TB 6901) sowie Musik im faschistischen Deutschland von Werner Heister und Günter Klein (Fischer -TB 6902). Es handelt sich um Erich Valentin, der in der Nachkriegszeit eine nicht unerhebliche Rolle im pädagogischen wie im publizistischen Bereich spielte: Über Jahre war er Präsident der Münchner Musikhochschule, wo er auch vielbesuchte Vorlesungen in Musikgeschichte gehalten hat; überdies hat er in unzähligen wissenschaftlichen und populärwissenschaftlichen Veröffentlichungen und Vorträgen eine beachtenswerte Breitenwirkung entfaltet und war zudem lange Zeit Erster Vorsitzender der Deutschen Mozartgesellschaft. Heute lebt er als Emeritus in München.

Führt man sich allerdings vor Augen, aus welchem Blickwinkel Prof. Valentin in den dreißiger und vierziger Jahren deutsche Musikgeschichte betrachtet und dargestellt hat, so können doch zumindest Zweifel an der Wissenschaftlichkeit des promovierten Wissenschaftlers aufkommen. Im Jahre 1940 erschien in der ReiheVon deutscher Musik im Gustav-Bosse-Verlag Regensburg ein Büchlein aus seiner Feder, das wohl als gemeinverständlicher Abriß deutscher Musikhistorie verstanden sein wollte. Bezeichnend der Titel: Ewig klingende Weise. Ein Lesebuch vom Wesen und Werden deutscher Musik.

Es mag bis zu einem gewissen Grade entschuldbar sein, wenn in einer sonst ernst zu nehmenden Publikation jener Zeit ein Autor sich genötigt sah, im Vorwort etwa einen Hinweis auf die „neue Bewegung“ der Gegenwart oder jüngsten Vergangenheit einzuflechten, weil andernfalls eine Veröffentlichung seines Buches möglicherweise erschwert oder gar unmöglich gewesen sein könnte - begreiflich und verzeihlich dann, wenn der eigentliche Inhalt sich von derartigen Anbiederungen freihielt (was damals durchaus möglich war). Erich Valentin kann man jedoch eine solch wertfreie Haltung nicht bescheinigen. Vielmehr strotzt sein Lesebuch von tendenziösen, verfälschenden, ja gehässigen Formulierungen, welche die Lektüre auf die Dauer ungenießbar machen.

Einige Kostproben seien hier wiedergegeben - wobei sich freilich dem Verfasser dieser Zeilen bei der Niederschrift die Feder sträubt!

„Mit ihrem Blute haben die Ahnen den Boden geheiligt, daß alle, die nach ihnen kommen und gleichen Blutes sind, leben können, um das Heiligtum des Erbes mit neuen Opfern zu segnen. - Das Gesetz der Rasse ist diese die Zeiten einende Kraft“ (Seite 13).

„Sie alle ... sind die mahnenden Zeugen einer Vergangenheit, die einst auch einmal Gegenwart war, als diese lebten, litten, kämpften und starben. So war es und so blieb es, so wird es bleiben. Denn ewig wie die deutsche Seele ist auch die Weise, die dieser Seele entklingt. Nur was Mode ist zerfließt im Nebeldunst der Lügenhaftigkeit“ (Seite 27).

„Über die Pracht des fürstlichen Herrentums flatterten die zerfetzten Fahnen blutigsten Elends. Die Flammen des Dreißigjährigen Krieges umflackerten, einer grausigen Glorie gleich, den schöpferischen Reichtum einer Kunst, die in einem armen, zerrissenen, aus tausend Wunden blutenden Land wuchs und - gedieh. - Herrliches Volk, dem das gegeben war, in einer Schreckensstunde, in der Frankreichs Sonnenkönig blühende, friedsame deutsche Gaue in Schutt und Asche legte und die ehrgeizige Hoffnung hegte, Deutschland auf alle Zukunft sterben zu machen!“ (Seite 29).

„Und herrliches Wunder: sieghaft überragte die deutsche Musik das Auf und Nieder der Irrwege“ (Seite 30).

„(Heinrich) Schütz ist der erste deutsche Musiker, der in der Zeit der Gefahr das Heft in die Hand nahm und mit dem Einsatz seiner Persönlichkeit deutsches Wesen und deutsche Artung in der Haltung seiner Musik offenbarte“ (Seite 33).

„In ihm (J.S. Bach) lebte und wirkte die blutechte bäuerliche Tradition, die aus dem Boden kam, dem die fahrenden Musikanten des Mittelalters, die handwerklichen Meistersinger und die Musiker der Reformation entsprossen waren“ (Seite 38).

„Der neue Mensch, der in Beethoven da war, wurde in ihm (Bach) geboren. Denn sein Jahrhundert, an dessen Ende eine falsch verstandene Humanität das Fanal einer die Welt aufwühlenden Revolution stand, barg den Kern einer 'Weltkrise‘, die erst unsere Gegenwart bereinigte“ (Seite 39).

„Die festlich-frohe Kraft seiner (Haydns) Musik, der Sinfonien, Oratorien, Quartette, erfüllte sein ob der Not des unter Napoleons Herrscherdünkel schmachtenden Vaterlandes bedrücktes Herz. Jene Weise, die jeden Deutschen in tiefster Seele erhebt und bezwingt, ist diesem Herzen entsprossen: Melodie und Satz des Deutschland-Liedes... In Haydn ersang sich die ewig klingende Weise ihren stolzesten Sieg... Als Hadyn starb, lag Deutschland in tiefster Schmach am Boden. Und wenn er nichts weiter geschrieben hätte als diese eine Melodie, mit der im Weltkrieg die jungen Freiwilligen in den Tod gingen - sein Name würde allein um dieses einen willen ewig unvergessen im Herzen der Deutschen bestehen“ (Seiten 50-52).

„Weber, ein Deutscher so ganz aus der Fülle seiner lauteren Seele, den Deutschen von der Gnade der Vorsehung geschenkt, um von ihnen geliebt zu werden“ (Seite 65).

Das Kapitel „Der Fremdling“ sei vollständig wiedergegeben, da es in besonders drastischer Weise zeigt, wie weit Musikjournalismus im vorgeblich wissenschaftlichen Gewand sich zu kompromittieren, ja zu prostituieren vermag. Der originalgetreu zitierte Text spricht für sich selbst:

„Die Stunde der Entscheidung brach an. - In mehr als einem Jahrtausend Gewachsenes und Gewordenes sollte in die Hände des ungerufenen Fremdlings gegeben werden. An die Wurzel des kraftstrotzenden Baumes wurde die Axt angelegt. Judentum hieß der Fremdling, der sich auf dem Umweg über die Weltanschauungslehre der Aufklärung den Zutritt in die ihm wesensentfernte Welt verschafft hatte. - In der Maske des Bettlers war er gekommen. Nun betrat er geltungheischend die Stufen von Theater und Konzertsaal, um über sie zu den Stufen der Throne zu gelangen. - Heinrich Heine trieb mit denen, die ihm blind vertrauten, seinen Spott und täuschte selbst die Besten. Ludwig Börne prägte das Machtwort der Kritik und suchte den toten Alten von Weimar zu enterben. Schlimmer als die schändliche Tat war der Erfolg: man schenkte ahnungslos Glauben. - Das Zepter der Musik ergriff einer, dem das Kämpfertum wie allen seines Blutes, die nach ihm kamen, erspart blieb: Felix Mendelssohn-Bartholdy, der Bankierssohn, dem sich Ruhm, Glück, Erfolg und Macht zuwandten. Alles, alles wurde ihm zugesprochen, selbst das Verdienst der Erweckung Johann Sebastian Bachs. Man vergaß, daß der alte Zelter es gewesen, der den Namen des Thomaskantors wieder in die Wagschale geworfen hatte, Zelter und neben im Männer wie Forkel, Nägeli, Rochlitz. Nur mangelte einst dem biederen Alten das Geld, zu vollenden, was er begonnen. Und das Geld war zur gestaltenden Kraft geworden - So begann es. So ging es weiter. Der Fremdling verdrängte mit satanischem Eifer den Besitzer von Grund und Haus seiner Väter. Giacomo Meyerbeer - auch er ein Bankierssohn -, der in Paris residierte, wurde Friedrich Wilhelm IV. Generalmusikdirektor. Jacques Offenbach aus Köln, Ignaz Moscheles, der in Paris, London und Leipzig zu Hause war, ernteten den Beifall, den man den anderen versagte. - Weltbürgertum und Judentum - zwei Namen für denselben Begriff - befleckten die Unantastbarkeit der ewig klingenden Weise. Der Kampf der hundert Jahre nahm seinen Anfang“ (Seiten 73/75).

Das folgende Kapitel über Wagner beginnt mit der bezeichnenden Aussage: „Die Vorsehung meinte es rechtschaffen.“ Doch genug der Zitate. Man kann sich ohnehin ausmalen, wie Valentins Bewertungen etwa eines Bruckner, Reger, Richard Strauss und Pfitzner „geartet“ waren. Daß in dem als „Anfang für Lernbeflissene“ angefügten kleinen Lexikon Paul Graener, zu jener Zeit Leiter der Fachschaft Komposition in der Reichsmusikkammer, angeführt ist, Namen wie Gustav Mahler und Arnold Schönberg jedoch fehlen, versteht sich von selbst. Bela Bartok hatte im Jahre 1939 Einspruch dagegen erhoben, daß man ihn bei den „entarteten“ Komponisten vergessen hatte. Erich Valentin hätte im vergangenen Jahr Anlaß gehabt zu protestieren, daß er, der auf der Gegenseite Position bezogen hatte, bei der neuerlichen Dokumentation unberücksichtigt blieb.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen