: Gedankenzensur
■ Auch die Opposition ist hier Establishment
Von Sherif Hetata
Als das Telefon klingelte, saß ich zu Hause im Dorf gerade am zweiten Band meiner Memoiren Offene Fenster. Eine familiäre Stimme sagte: „Hier ist Adel Darwish von 'Index on Censorship‘.“ Das war das erste Ferngespräch, das mich in meinem Dorf, in Koddaba, 125 Kilometer von Kairo entfernt, seit der Einführung des Direktwahlsystems erreichte. Adels Stimme war ganz nahe, obwohl er Tausende von Kilometer entfernt in London saß und ich in diesem hintersten Dorf mit seinen Lehmhütten, die sich unter Hügeln trockener Baumwollzweige und Reisstroh übereinandertürmten, deren Frauen in farbenprächtigen Gewändern Geschirr im Fluß waschen und deren Kinder abends aus der Schule zurückkommen, Silhouetten gegen einen flammenden Himmel oder im Gänsemarsch durch dunkelgrüne Felder mit einem orangenen Mond über sich.
Adel sagte: „Ich möchte einen Artikel über Zensur in Ägypten.“ Also lasse ich die Memoiren eine Weile liegen und erzähle euch eine Geschichte.
Anfang letzten Jahres hatte ich die Arbeit am ersten Teil meiner Memoiren, der sich mit Kindheit und Jugend befaßt, fertiggestellt. Ich dachte, es wäre eine gute Idee, ihn gleich zu veröffentlichen und nicht darauf zu warten, bis das ganze Buch fertig wäre.
Mein Verleger ist eine der führenden Gestalten in der Bücherwelt und hat weitgespannte Kontakte in der gesamten arabischen Welt. Früher war er Minister im ägyptischen Kabinett und ist jetzt ein eifriger Streiter für Menschenrechte. Ich schickte ihm das Manuskript, und wir trafen uns einige Monate später. Ich fragte ihn, was er entschieden hätte. Nach ein paar schmeichelhaften Bemerkungen sagte er: „Aber es tut mir leid, wir werden es trotzdem nicht veröffentlichen können. An verschiedenen Stellen schreibst du über deine Gedanken und Erfahrungen zur Religion, und wie sich dein Standpunkt verändert und entwickelt. Du weiß doch, das das ein sehr heikles Thema ist. Wir hatten schon öfter mal Probleme dabei mit Al Azhar (zentrale Autorität in religiösen Angelegenheiten; dort wird auch der moslemische Klerus ausgebildet. D.Red.).“ Er zögerte einen Moment und fügte dann hinzu: „Außerdem beschreibst du auch einigermaßen detailliert von deinen sexuellen Erfahrungen als Kind und Jugendlicher, besonders auch, wie du von einem Schwarzen sexuell mißbraucht wurdest, als du noch ziemlich klein warst und welche Wirkung das auf dich bis lange danach hatte, was Gefühle gegenüber schwarzen Männern und Frauen betrifft. Und dann noch einmal, wie ein schwarzer Wächter dich im Gefängnis zusammenschlägt. Auch damit habe ich meine Probleme.“
Ich war nicht in der Stimmung, meine Arbeit anhand solcher Kriterien zu diskutieren. Ich zog das Manuskript zurück und schickte es ein paar Wochen später an das Lektorat eines der größten staatlichen Verlagshäuser Ägyptens. Neben vielem anderen wird dort eine vielgelesene Taschenbuchreihe herausgegeben, in der literarische, wissenschaftliche, historische und kulturkritische Arbeiten erscheinen. Nach langer Wartezeit kam mein Manuskript zurück, zusammen mit einem höflichen Ablehnungsbrief des Cheflektors, der als einer der eher liberalen Intellektuellen des Landes gilt. An den Manuskripträndern fanden sich viele Bemerkungen in roter Tinte. Außer den Passagen, in denen es um Religion und Sexualität geht, fand ich Ausrufungs- und Fragezeichen auch überall dort, wo ich kritische Gedanken zum Staat und zu Autoritäten im Allgemeinen geäußert hatte.
Aber auch damit war die Sache noch nicht zu Ende.
Enige Tage später bat mich eine der führenden Persönlichkeiten der linken Partei, zu der ich gehöre, bei ihr vorbeizukommen, um etwas wichtiges zu besprechen. Ich dachte, es hätte mit der Dringlichkeit zu tun, mit der unsere literarischen und kulturellen Aktivitäten reaktiviert werden müßten, und ich ging zu ihm in der Bereitschaft, mich an allem, was er vorschlagen würde, zu beteiligen. Aber nein, damit hatte es gar nichts zu tun. Wieder einmal war das Problem mein Memoirenmanuskript.
Ich nahm zur Kenntnis, daß sich jemand die Freiheit genommen hatte, anderen von meinem unveröffentlichten Mansukript zu erzählen. Das war vielleicht nicht so wichtig. Wirklich wichtig war, daß man versuchte, Zensur auf mein Denken auszuüben - und natürlich auch der Druck und der Verlagsboykott, dem man mich aussetzte. Das war nun nicht etwa das erste Mal, daß das passierte. Kurz vorher hatte der Redakteur einer Monatszeitschrift darauf bestanden, daß ich das Wort „Präsident“ in meiner Kurzgeschichte durch das Wort „Vorsitzender“ ersetzen sollte, für den Fall, jemand dächte etwa, ich meinte den Präsidenten Ägyptens - was in dieser Geschichte nun durchaus nicht der Fall war.
Staatliche und göttliche Kontrolle
In Ägypten gibt es keine offizielle Buchzensur und auch keine Gesetze, die die Zensur von Büchern erlauben würden. Und dennoch: in der Realität gibt es, was „Ideen“ und „Gedanken“ betrifft, eine äußerst beengende Art von Zensur, besonders in den Bereichen Religion und Philosophie, die Geschlechterbeziehung, um soziale Werte, Macht und das herrschende Klassensystem. Die Restriktionen, die dem „freien Denken“ auferlegt werden, sind sehr weitreichend, und Schriftsteller leben eng umstellt von „Tabus“, die durch ein traditionell mächtiges zentralisiertes System gestützt werden, dessen weitläufige Verzweigungen bekanntermaßen in alle Bereiche des Lebens reichen. Hinter diesem staatlichen System stehen die religiösen Autoritäten und der wachsende Druck von petrodollar-gestützten Kreisen, fundamentalistischen, christlichen und jüdischen Gruppen.
Die größten Verlagshäuser Ägyptens sind in staatlichem Besitz und an ihre Spitze sind Männer (nicht eine Frau) gestellt, deren Loyalität außer Frage steht, und deren sorgfältige Auslese und jahrelange Beobachtung sicher sein läßt, daß sie keinerlei eigene „Impulse“ mehr haben. Wer also ein Manuskript einschickt, das sich außerhalb der herrschenden „Denkweise“ bewegt oder im Widerspruch zu „unseren traditionellen Werten“ steht, der muß damit rechnen, nicht gedruckt zu werden. Außerdem gibt es immer noch Al Azhar, eine Institution, die überall einspringt, wo das System etwas hat durchgehen lassen. Fast überall sind fundamentalistische Wächter eingesickert, die nach dem Blut noch der zahmsten Liberalen schreien. Als Louis Awad sein Buch Fikh El Logha (Die Wissenschaft der Sprache) veröffentlichte, in dem er unter anderem auch die Sprache des Koran analysiert, wurde das Buch durch Al Azhar verboten. Es könnte ja den Gedanken nahelegen, daß die Normen, Regeln und Gesetze der Sprache sich auch auf den Koran beziehen, und daß die Sprache des Koran daher womöglich nicht wundersam und göttlich ist. Vor etwa zwei Jahren versuchte man auch mit einigem Einsatz, die Geschichten aus Tausendundeiner Nacht zu verbieten.
Verlage in Privatbesitz sind klein, und es gibt nur sehr wenige. Ihre Verlagspolitik ist gekennzeichnet von großer Vorsicht. Die größeren werden in aller Regel aus einflußreichen Kreisen finanziert, meist in Verbindung mit den Golfstaaten.
Zwar gibt es kein Zensurgesetz, aber das „Gesetz der Scham“, unter Präsident Sadat verkündet, öffnet die Tür zur Verfolgung aller, welche „die fundamentalen Werte unserer Gesellschaft“ angreifen - eine sehr ungenaue Beschreibung des Vergehens und daher überaus brauchbar als Lizenz für die Beschneidung politischer Rechte. Allerdings ist seit Mubaraks Präsidentschaft das Gesetz nicht angewandt worden.
Das Kriegsrecht ist nach wie vor in Kraft, das eine sechsmonatige Haft ohne Prozeß erlaubt - auch diese Bestimmungen sind bisher nicht auf Schriftsteller oder unabhängige Intellektuelle, durchaus aber auf politische Gegner, angewandt worden.
Was die Massenmedien betrifft, ist die Lage um einiges ernster. Die wichtigsten Zeitungen und Zeitschriften sind in Besitz und unter Kontrolle des Staates. Alle, die dort verantwortliche Posten haben, Abteilungen leiten oder feste Kolummnen schreiben, sind Teil des Establishments - und übrigens oft verwandt oder verschwägert. Wer aus der Reihe tanzt, verliert den Job. Das jedenfalls erzählen sie mir, wenn sie meine Artikel ablehnen - was sie in aller Regel tun.
Parteizeitungen und -Zeitschriften gibt es wenige. Sie repräsentieren politische Minderheits-Cliquen, die zwischen dem eigenen Sonderinteresse und den verschiedenen Gruppeninteressen außerhalb der staatlichen und Parteipresse lavieren. Neben den Zeitungen und Zeitschriften, die finanziert und kontrolliert werden von der mächtigen Gruppierung der Petrodollar-Länder, einschließlich Saudi -Arabien und Kuwait, Libyen und Irak, gibt es kaum noch etwas. Ihre Zeitungen werden meist im Ausland gedruckt und als fertige Produkte eingeführt und vertrieben.
Außer politischen Parteien und Petrodollar-Kreisen muß jede Vereinigung oder Institution, die eine Zeitung publizieren will, in der Bank eine Summe von 100.000 bis 250.000 ägyptischen Pund hinterlegen, so besagt es Artikel 19 des von Sadat verkündeten Pressegesetztes. In der Praxis hat sich diese Bestimmung als entscheidendes Hindernis erwiesen.
Das mächtigste Massenmedium des Landes, das Fernsehen, ist ebenfalls in Staatsbesitz und wird noch weit strenger kontrolliert als die gedruckte Presse - natürlich wegen seiner immensen Verbreitung und Beliebtheit. Die überwiegende Mehrheit der Ägypter, ob in Stadt oder Dorf, sieht inzwischen fern. In einem Land, in dem immerhin noch 60 Prozent der Bevölkerung Analphabeten sind, ist das Fernsehen noch weit einflußreicher als anderswo. Abgesehen von dem Problem der kulturellen Überfremdung und Amerikanisierung ist die herrschende Gedankenzensur enorm, die durch einen besonderen internenen Apparat ausgeführt wird, der dem Innenministerium direkt unterstellt ist. Von außen sieht es so aus, als ob jeder Schriftsteller und Intellektuelle, jede öffentliche Person ohne Behinderung auf dem Bildschirm auftauchen und reden kann. In Wirklichkeit gibt es versteckt und stillschweigend eine Schwarze Liste, die sich aus gründlicher Beobachtung der Betreffenden nährt. Was meinen „Fall“ betrifft: weder erscheine ich jemals im Fernsehen noch spricht dort oder in der Presse jemals einer über meine Romane oder andere Arbeiten.
Das Ergebnis ist, daß Einzelpersonen, Vereinigungen und literarische, kulturelle und wissenschaftliche Institutionen nur durch Rundbriefe, Pamphlete und Bücher im eigenen Mitgliederkreis ihr Denken kommunizieren können.
Seit der Präsidentschaft Mubaraks hat sich die Situation etwas gebessert - aber wirklich nur ein ganz kleines bißchen. Entweder ist man des Establishments in seinen verschiedenen Facetten, einschließlich derjenigen, die Opposition genannt wird, oder man muß sich mit einer winzigen Nische in diesem System der kontrollierten Massenmedien zufriedengeben.
Daher ist es kein Wunder, daß das politische, kulturelle und intellektuelle Leben Ägyptens apathisch und farblos ist und den Widerstreit von Ideen vermissen läßt, der das Denken erst wirklich entzündet.
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