: Clowns und Cannnibalen
■ „Das Floß der Medusa“, Clownsprojekt im Freiraum-Theaters
Anno 1816 schlug die französische Fregatte „Medusa“ vor der Küste Mauretaniens leck. Die Besatzung baute sich aus Schiffsmasten und Planken ein Floß, auf dem 150 Schiffbrüchige notdürftig Platz fanden. In den folgenden dreizehn fürchterlichen Tagen erlebten die hilflos Treibenden Stürme, Hunger, Meutereien, Wahnsinnsanfälle, Kannibalismus: eine Tragödie im antiken Sinn. Fünfzehn blieben übrig, zwischen Lappen sonnengetrockneten Fleisches aufgefunden. In den Salons und Cafes von Paris gab es damals kein anderes Gesprächsthema. Zwei Überlebende, ein Wundarzt und ein Ingenieur, veröffentlichten einen in mehrere Sprachen übersetzten detailierten Bericht („Schiffbruch der Fregatte Medusa“), der Theodore Gericault zu dem gigantischen und epochelen Werk „Das Floß der Medusa“ anregte.
Tragödie
antiken
Ausmaßes
Ein unerhörter Stoff, dessen sich die FreiraumlerInnen angenommen haben. Schlägt ihr Clowns-Projekt Funken daraus?
Weil das Tragische den Clown immer aus dem Hinterhalt überfällt, fängt auf dem Floß der Medusa alles ganz spaßig an: Da gibt es Cigarillo-paffende Mafia-Clowns, die nach einer gummigliedrigen Flamenco-Tänzerin geiern, da gibt es knollennasige „Schönheiten“, die Frauenmagazine förmlich verschlingen, die nasse Romanze zwischen der Eisverkäuferin und einem Taucher, alles clownesk: mit Augenrollen,
Zähnefletschen'Schenkel- klatschen, Popowackeln, OHS, AHS, IHS, UIS und Volldampf.
Seit mehr als drei Jahren arbeiten die elf Jungclowns übrigens vorwiegend - angehende - AkademikerInnen vom Lehramt bis zum Rechtsfach) bei Jürgen Müller-Othzen, workshopmäßig und in „Sommer-Clowns-Projekten“. Vielleicht ein „akademischer“ Ansatz: Aus der Ecke des Clowns über den Tod zu sprechen und dabei Peter Weiß‘ „Ästhetik des Widerstands“ im Kopf zu haben. Wobei von vornherein klar war, daß die Clowns draufgehen. Schonungslos.
Nummern
Unter anderm werden sie unter Action verschüttet, die an Bord des Floßes immer wieder ausbricht. Bei so viel Action blieb leider keine Zeit für ruhige, traurig-schöne Momente. Für Melancholie, die verzaubernde Clownerei, ist auf dem Floß der Medusa leider kein Platz. Dazu hätten die elf ihr Publikum mehr gefangennehmen als in Atem halten müssen: Da genügt es einfach nicht, einzelne „Nummern“ aneinander zu reihen, dazu hätten sie einfach mehr miteinander als neben und nacheinander ihre einzel erarbeiteten Sets spielen müssen. So blieb es zuletzt bei einer „Best-of-Clowns -Workshop-Parade“.
Gruppenimprovisation
mit Gebrüll:
Bis „Das Floß der Medusa“ dann zum traurigen Schluß in eine Gruppenimprovisation zum Thema „Schiffsbruch“ kippt: Plötzlich verrutschen den komischen Gestalten die roten Knub
belnasen, die Grimassen geraten zu Fratzen, aus dem Geschrei wird Gebrüll, aus dem lustigen Gegluckse Geröchel. Im nackten Kampf ums Überleben gehen die Clowns unter. Am Ende können die Scheinwerferspots nur noch auf eine Gruppe von Leuten mit
blauen Flecken zeigen, die posierten, wie es auf Theodore Gericault's Gemälde „Das Floß der Medusa“ dargestellt ist. Das ist, mit Verlaub, schon fast wieder komisch gewesen.
ecw/bu
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