Reisende aus Ost, „das sind reine „Rovinacci“

■ Als ruinenfleddernde „Ruinbringer“ gelten die osteuropäischen Hoffnungsträger der italienischen Tourismusbranche / Sie hocken bei Wasser und Brot im Sand, die Verleiher sitzen auf ihren Liegestühlen - auf Diskoaquapark steht keiner

Aus Venedig Werner Raith

Carlo Rossoli, seines Zeichens Gondoliere mit Station am Markusplatz, derzeit auf einer Art Lokaltermin am Bahnhof vor der Chiesa degli scalzi - wörtlich: „Kirche der Barfüßigen“ - gelandet, kann den Kirchennamen nur als Omen deuten: „Großer Gott“, brummt er, „schau dir die nur an: an denen verdient allerhöchstens noch Pasquale.“ Pasquale ist Carlos Vetter, und der ist in einem speziellen Geschäft tätig - er sorgt mit seinen Gondeln für die Überführung von Leichen auf den Friedhof. Die von Carlo ausgespähten potentiellen Kunden seines Vetters haben tatsächlich zu einem Teil nicht gerade das gesündeste Aussehen.

Doch das kommt weniger von Unterernährung, drohendem Infarkt oder Leukämie - die Menschen sind gerade einem der mehreren hundert Busse entstiegen, die da allmorgendlich anreisen, nach oft zehn bis fünfzehnstündiger Fahrt aus Prag, Budapest, Rostock, Warschau, mancher sogar aus Leningrad oder noch weiter angereist. Allesamt proppevoll bis überfüllt, mit Leuten, denen die Übelkeit ins Gesicht geschrieben steht - aber auch der eiserne Wille, bis zum Abfahrtstermin um fünf Uhr abends alles, aber auch alles gesehen zu haben, was es auf den zwei Quadratkilometern Rennaisance-Pracht zu sehen gibt. „Und das waren einmal unsere Hoffnungsträger“, murrt Carlo, „möchte nur wissen, warum sich die vorher keiner angeguckt hat.“ Er schüttelt den Kopf in Richtung Kirche, als hätte wenigstens von dort rechtzeitig eine Warnug kommen sollen.

In der Tat kann die Ernüchterung nicht größer sein. Hatte sich nicht nur Venedig, sondern das gesamte durch Algenplage, Wasserverschmutzung und WM-bedingte Ungemütlichkeit gebeutelte Tourismus-Italien bis vor kurzem allergrößte Hoffnungen auf ein zügiges Auffüllen der Buchungslöcher gemacht, so sind die Gesichter in den letzten Wochen zunehmend länger geworden. „Die kommen hier an“, schimpft die Klofrau am Markusplatz, „blockieren die Kabine eine halbe Stunde, weil sie sich drin umziehen und wer weiß noch was - und ich hab gerade die üblichen 250 Lire davon.“ Beim Pink-Floyd-Konzert voriges Jahr, das so viel Ärger gemacht hat, weil die Lautsprecher quadratmeterweise Putz und Marmorstücke von den Fassaden gedonnert haben, sei das viel besser gewesen: „Die gingen rein, ruckzuck, wieder raus, zweitausend Leute in ein paar Stunden.“ Von denen aus dem Osten, so sagt sie's auch einer kurz danach aufnehmenden Fernsehcrew, schaffte das Klo allenfalls drei Dutzend in der Stunde. „Reine Verdiensttöter sind das. Jawohl.“

„Rovinacci“ ist der Name, der ihnen schon seit einigen Wochen anhängt, Ruinbringer, im übertragenen Sinn auch Ruinenfledderer. Es sind freilich nicht die ersten Menschen, mit denen die einst so umsatzsicheren Ostküstenbewohner des Landes schlechte Erfahrungen machen; als ginge es mit dem Teufel zu, geht alles, aber auch alles schief, was immer die italienischen Tourismusmanager sich ausdenken, um ihre Gestade wieder attraktiv zu machen. Und da in Italien mehr als ein Viertel aller Arbeitsplätze vom Fremdenverkehr abhängt, ist das ein nationalökonomisch erstklassiges Problem. „Als vor einem Jahrzehnt durch Bauspekulation und die Mode, sich ausgerechnet in den weltbekannten historischen Orten Zweit- oder Drittwohnungen zu halten, die Übernachtungspreise explodierten“, murrt der amtierende Bürgermeister Antonio Casellati, „haben die Manager alles auf den Massentourismus gesetzt. Erfolg: monatelang durchströmen täglich mehr als 50.000 Fremde unsere Stadt, latschen unsere Straßen ab, werfen ihren Dreck ins Wasser.“ Vor vier Jahren gab es einen ersten Aufstand der Kommune (der Bevölkerung kann man nicht sagen, denn die Stadt hat in den letzten Jahren mehr als die Hälfte ihrer einst 150.000 Einwohner verloren): Rucksacktouristen wurde durch Absprühen der (sowieso nur noch wenigen) Grün- und Lagerflächen der Freude am Übernachten im Freien verdorben. „Das nächste, was auf uns zukam, war die angeblich ausgabenintensive Jugendkultur“ - davon haben die Venezianer seit dem Pink -Floyd-Desaster genug. „Dann die Expo-Pläne - die haben wir gottlob noch rechtzeitig durchschaut und gekippt.“ Möglicherweise, behaupten böse Zungen, war bei der Anti-Expo -Bewegung freilich auch schon die Gewißheit im Spiel, durch den Ost-Zufluß sowieso eine neue, bescheidene, leicht lenkbare Klientel heranziehen zu können, die ihre vom Westen eingeschossenen Investitionen ganz selbstverständlich auch im Westen ausgeben würde. Doch nun klappt auch das wieder nicht.

Daher ist nun erneut von allerlei Beschränkungen die Rede. Bloße Gaffer, Schaulustige, vorbeihetzende Habenichtse haben in der einst reichsten Stadt der Welt nichts zu suchen. Vom Übernachtungszwang für Besucher ist die Rede, vom Vorweisen wenigstens eines Mindestbetrags an Lire vor dem Betreten der Stadt - eine Art Zwangsumtausch wie ehedem, wenn man in den Ostblock reisen wollte. „Warum auch nicht?“ sagt Carlo, „verlangt ja keiner von denen, daß sie hierher kommen.“

Die einzuwechselnde Summe müßte allerdings ziemlich hoch sein - Venedig ist eine der teuersten Städte der Welt, man kann für einen einzigen Apfel bis zu sieben Mark bezahlen; selbt eine kurze Gondelfahrt, Carlo gibt das ohne Scham zu, „übersteigt schon nach der zweiten Biegung 50.000 Lire (70 DM); auch die völlig wertlosen Tandstücke wie Armbändchen oder Plastikgondeln sind nicht mehr wie früher um eine oder zwei Mark zu haben. Carlo schüttelt erneut den Kopf. „Als die ersten da ankamen und kein Geld hatten, haben wir geglaubt, daß das nur die Vorreiter sind, vielleicht wirklich bildungsbeflissene Antikengucker. Aber daß die alle so sind...“ Er versinkt wieder in tiefes Hadern mit der Ungerechtigkeit der Welt. Doch nicht nur die teuren Venezianer, auch all die anderen auf Fremdenfang angelegten Küstenorte vermelden ähnliche Erfahrungen. „Gegen die“, sagt ein Bademeister aus Cesenatico nahe Rimini, „waren die englischen Hooligans geradezu spendable Herren“: als die während der WM - ihre Mannschaft spielte im nahen Bologna hier einfielen, „haben sie immerhin massenweise Bier konsumiert und das Restgeld liegengelassen. Die Polen, Tschechen, Ostdeutschen, die haben ihr Wasser, ihre Panini Schdulle, heißt das bei denen - dabei und hocken sich da vorne in den Sand, hissen ein Leintuch gegen die Sonne, und ich bleib‘ auf meinen Liegestühlen und Schirmen sitzen.“

Die häufigste Frage, kaum haben die Tourismus-Abhängigen zwischen Venedig und Bari die West-Nationalität eines Germanen erkannt, ist die nach dem „Geld, das die doch seit dem 1.Juli eigentlich haben müßten“, wie Antonio Mantuano vom „Costa del sole“ fragt, „oder?“ Besonders ärgerlich vermelden einige Hotel-Billiganbieter - meist von randlägigen Etablissements, die von den großen Unternehmen schon länger nicht mehr angefahren werden -, daß speziell „die DDR-Genossen oft erstmal einige Stunden aufs Zimmer gehen, sich wohl richtig ausruhen und dann wegen des angeblich doch zu hohen Preises wieder abschieben“. Der Fremdenverkehrsverband der Region Emilia romagna versucht vergeblich, die Gemüter zu beruhigen - „schließlich haben die überhaupt keine Erfahrungen mit einem richtigen Urlaubstourismus, kennen längst nicht alle Einrichtungen und Angebote: Man muß Geduld haben.“ Leicht gesagt, murrt Antonio Mantuano, „wenn eine ganze Branche mit einer Art letzter Hoffnung auf die neue Klientel eingestimmt worden ist.“

Und leicht gesagt auch, wenn man der neuen Klientel Geld mit Urlaubsformen entlocken will, die bereits die diskoaquapark- und animateurgewohnten West-Urlaubsprofis wegen ihres Lärms, ihrer Streßförderung und ihrer Reizüberflutung fliehen.