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416 Gramm Quecksilber pro Kilogramm Mörtel

■ Jahrzehntelang hat die „Chemische Fabrik Marktredwitz“ die Umgebung verseucht / Doch bayerische Behörden versuchen bis heute, den Skandal zu vertuschen / Fünf Jahre nach der Schließung sind die Entsorgungs- und Sanierungsarbeiten eingestellt

Aus Marktredwitz Bernd Siegler

Ein leeres Pförtnerhäuschen, halb abgebrochene Fabrikgebäude und außen herum ein Bretterzaun - stumme Zeugen von Bayerns bislang größtem Umweltskandal. Fünf Jahre nach der behördlich verfügten Schließung der oberfränkischen „Chemischen Fabrik Marktredwitz“ (CFM) sind die Entsorgungs und Sanierungsarbeiten zum Stillstand gekommen, obwohl Fabrikgelände und -gebäude sowie der Boden in der ganzen Stadt hochgradig mit Quecksilber verseucht sind. Die wenigen Aktiven in der Bürgerinitiative sind empört. „Ja, sollen wir denn mit dem Knüppel nach München fahren?“ fragt sich Gustav Patz, BI-Mann der ersten Stunde und ansonsten von eher ruhigem Gemüt. Bei dem 45jährigen Einzelhändler aus Marktredwitz sind vor drei Jahren alarmierend hohe Quecksilberwerte in Blut und Urin festgestellt worden, obwohl er noch nie in der CFM gearbeitet hatte. Gustav Patz fühlt sich jetzt „fünf Jahre lang verarscht“.

400fache Grenzwertüberschreitung

Damals, im Juni 1985, war Deutschlands älteste Chemiefabrik (Gründung 1788), in der quecksilberhaltige Saatbeiz-, Pflanzenschutz- und Schädlingsbekämpfungsmittel hergestellt wurden, geschlossen worden. Kurz zuvor hatte die Kriminalpolizei Hof in dem direkt an der Fabrik vorbeifließenden Bach Kösseine eine 400fache Überschreitung der Quecksilbergrenzwerte gemessen. Erst bei den Aufräumungsarbeiten wurde das ganze Ausmaß des Skandals deutlich. Bodenproben vom Gelände ergaben Spitzenwerte von 56.000 mg Quecksilber, bereits bei 10 mg gilt ein Boden als hochgradig verseucht. Von den Fabrikwänden konnten die mit Gasmasken und Vollschutzanzügen ausgerüsteten Arbeiter das Quecksilber direkt abkratzen, im Abluftkamin wurden 416 Gramm des giftigen Metalls pro Kilogramm Mörtel gefunden, also nahezu die Hälfte der Bausubstanz. Das Landratsamt war gehalten, Verzehrverbote für Kräuter und Salate aus den Gärten in der Umgebung der Fabrik auszusprechen. Der Freistaat Bayern stellte 100 Millionen DM für die Sanierung des Geländes zur Verfügung.

Auch die Staatsanwaltschaft schaltete sich ein. Aufgrund der schwierigen Beweislage aber konnte man schwere gesundheitliche Schäden bei CFM-Arbeitern durch Quecksilbervergiftungen und sogar Todesfälle - insgesamt acht - nicht zur Anklage bringen.

Im Februar 1989 wurden schließlich die CFM-Manager wegen „Umweltgefährdung“ zu 110.000 DM bzw. 80.000 DM verurteilt. Neun Monate später wurde das Ermittlungsverfahren gegen die am Skandal beteiligten Behörden klammheimlich eingestellt. Der juristischen „Entsorgung“ schloß sich die politische im Untersuchungsausschuß des Landtags an. Sie wurde am 19. Juli beendet. Während die CSU darauf bedacht war, konkrete Schuldige auf unterer Ebene zu finden und in dem Direktor des Gewerbeaufsichtsamts Bayreuth ein willfähriges Opfer gefunden hatte, wollten SPD und Grüne die „vielen Bermuda -Dreiecke organisierter und unorganisierter Verantwortungslosigkeit unter die Lupe nehmen“, so der Fraktionsmitarbeiter der Grünen, Wolfgang Erler.

„Ziemlich verwahrloster Zustand“

Dabei kam ans Tageslicht, daß die Hinweise auf die Gefährlichkeit der „Giftküche“ CFM bis ins Jahr 1972 zurückreichen. Damals hatte eine Gruppe Marktredwitzer Gymnasiasten einen Preis von „Jugend forscht“ für den Nachweis erhalten, daß die CFM die Gewässer mit Quecksilber verunreinigt. Zwei Jahre später hatte der Betriebsrat vergeblich das bayerische Landesinstitut für Arbeitsmedizin in Bayreuth gebeten, bei der CFM einzuschreiten. Das Bayerische Staatsministerium für Arbeits- und Sozialordnung ignorierte im gleichen Jahr entsprechende Zwischenberichte der Gewerbeaufsicht. 1975 appellierte der Betriebsrat wiederum umsonst an die Berufsgenossenschaft Chemie, es sei an der Zeit, zu handeln.

1977 sprach das Landesamt für Umweltschutz nach einer Begehung der CFM von einem „ziemlich verwahrlosten Zustand“. Eine Überprüfung sei „dringend angeraten“. 1984 schließlich hatte das Bayerische Umweltministerium keine Bedenken, daß qecksilberhaltige Abfälle von anderen Firmen der CFM zum „Recycling“ überlassen wurden. Im Zeitraum von 1974 bis 1985 besichtigte das Gewerbeaufsichtsamt Bayreuth insgesamt 64mal die CFM, davon 12mal zusammen mit der Berufsgenossenschaft. Wurden einmal, was selten genug passierte, Maßnahmen angeordnet, unterblieb die Kontrolle. 1983 setzte sich das Gewerbeaufsichtsamt gar beim Landratsamt Wunsiedel dafür ein, daß die CFM aus der Störfallverordnung herausgenommen wird. Das Landesamt für Wasserwirtschaft hatte über Jahrzehnte hinweg lückenlose Unterlagen über die Gewässerverschmutzung durch die CFM. In einem Vermerk im August 1975 stellte die Behörde jedoch klar, daß „die bisherige Belastung durch die CFM keinesfalls der Öffentlichkeit bekannt gemacht werden“ sollte. In ihrem Abschlußbericht zum Untersuchungsausschuß fordern daher SPD und Grüne, daß in Zukunft entsprechende Daten öffentlich gemacht werden müssen.

„Wie üblich einige

sehr hohe Werte“

In der Schußlinie ihrer Kritik steht insbesondere Professor Helmut Valentin vom Institut für Arbeits- und Sozialmedizin der Universität Erlangen-Nürnberg. Über Jahre hinweg, so die grüne Landtagsabgeordnete Edith Memmel, habe er die Beschäftigten der CFM lediglich als „biologisches Material“ für seine Untersuchungen betrachtet. Als 1981 bei 90% aller Untersuchten erhöhte Quecksilberwerte, teilweise bis zur 200fachen Grenzwertüberschreitung, im Urin gefunden wurden, übermittelte Valentin die Ergebnisse an das Kreiskrankenhaus Marktredwitz mit dem Kommentar: „Wie üblich finden sich wieder einige sehr hohe Werte.“ Als Konsequenz machte sich Valentin zusammen mit der CFM für eine Verdoppelung der Grenzwerte stark. Seine Gutachten waren in der Regel dafür verantwortlich, daß von 43 Anzeigen wegen Verdachts einer quecksilberbegründeten Berufskrankheit nur drei mit einer teilweisen Anerkennung endeten. Beim Rest wurde statt chronischer Quecksilbervergiftung Altersschwäche, Alkoholismus oder gar Tuberkulose diagnostiziert. Memmel fordert nicht nur die Umkehrung der Beweislast bei der Anerkennung von Berufskrankheiten, sondern auch das Ende der „Geheimniskrämerei“ bei der Festsetzung von Grenzwerten und das Ende der unterschiedlichen Zuständigkeiten für Arbeits-, Gewässer und Immissionsschutz.

Für die Marktredwitzer Bürgerinitiative ist der Skandal jedoch noch lange nicht zu Ende. Während die Ratsherren der Stadt den wegen des CFM-Skandals abgewählten langjährigen Bürgermeister Achaz von Lindenfels - im Untersuchungsausschuß hatte er sich noch als „armes inkompetentes Würstchen“ bezeichnet - zum Ehrenbürger gewählt haben, hat seine Nachfolgerin die Hoffnungen der Bürgerinitiative bereits stark enttäuscht. So sind im Etat 1990 ganze 4.000 DM für die CFM vorgesehen, für die Gestaltung des Dienstzimmers der neuen Bürgermeisterin Birgit Seelbinder 18.000 DM. Der BI-Vorsitzende Helmut Rühl beklagt sich, daß für die Sanierung der kontaminierten Privatböden noch immer keine Mittel zur Verfügung gestellt werden, auch die Entgiftung von Kindergärten und -spielplätzen gehe kaum voran.

Daß die Behörden aus dem Skandal nichts gelernt haben, zeigt sich den BI-VertreterInnen beim Abbruch der Fabrikgebäude. Hatte selbt Altbürgermeister Lindenfels vor dem „Staubaustrag auf das übrige Stadtgebiet“ beim Abbruch gewarnt, wurden bei größter Hitze und Staubentwicklung Dächer und Zwischendecken der Gebäude abgerissen. Die Behörden erklärten unisono, es bestünde keine Gefahr, zumal die Abrißarbeiter lediglich im Teilschutz, also ohne Masken gearbeitet hätten. Als dann doch nachgemessen wurde, stellte man in den Auffüllungen der Zwischendecken 11,6 Gramm pro Kilogramm Quecksilber fest. Seit diesem Tag ruhen die Arbeiten. Obwohl Quecksilber bei relativ niedrigen Temperaturen bereits verdampft, ist die Baustelle bis heute nicht abgedeckt. „Die Dreistigkeit wird von Jahr zu Jahr größer“, beschwert sich Patz. „Die haben sich ja noch nicht einmal über das Reinigungsverfahren geeinigt“. Zwei Verfahren stehen zur Diskussion. Doch bei beiden hängt der Reinigungsgrad von den Kosten ab, und keiner glaubt mehr der Versicherung des Umweltstaatssekretärs Hans Spitzner von 1988, daß die Sanierung „keine Frage des Geldes“ sei. Die Bauschuttdeponie im Stadtteil Wölsau wird jetzt den Dreck aufnehmen müssen. Bis zu welcher Kontamination Schutt hier abgelagert wird, ist ein gut gehütetes Behördengeheimnis.

Doch die Mehrheit der 20.000 MarktredwitzerInnen stört das nicht, lediglich 50 Aktive zählt die BI. Der Rest macht sich über die CFM weniger Gedanken als über die Nachtaktion von Robin Wood, bei der der Bretterzaun mit Totenköpfen besprüht worden war. Das erschrecke doch die Kinder, empörte sich ein Leserbriefschreiber. Patz hat auch dafür eine Erklärung. Er verweist auf den Münchener Toxikologen Max Daunderer. Der hatte mit dem Hinweis auf eine „apathische, gleichgültige Bevölkerung“ vor der schleichenden Wirkung von Quecksilber auf das zentrale Nervensystem gewarnt.

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