: Videotopia oder: Ich sehe, also bin ich
■ Wohnzimmer gleichen einer High-Tech-Arche / Einäugiges Sehen wird Normalität
Von Lorenz Lorenzen
Der Schnappschuß vor dem Ätna, die Momentaufnahme mit Kind und Kegel an der „langen Anna“ vor Helgoland, selbst das Polaroid als „Instant„-Beleg, als Beweis, „seht her, uns gibt es tatsächlich“, sind in den Hintergrund des Interesses gerückt. Das Zauberwort heißt „Video„; in Abwandlung des Descartschen Satzes lautet das Motto unserer heutigen Zeit: Ich sehe, also bin ich (video, ergo sum).
Was mag zum Beispiel im Kopf des Familienvaters vorgegangen sein, den ich bei strahlendem Sonnenschein während einer Hafenrundfahrt beobachten konnte? Nach anfänglichen Gleichgewichtsstörungen, die wohl vom leichten Wellengang im Hamburger Hafen herrühr„ten, gelingt es dem Videoamateur, die Speicherstadt in voller Breitseite aufzunehmen. Aus dem Lautsprecher dröhnen die Erklärungen des Kapitäns, die sich für unseren Kameramann wie Regieanweisungen anhören müssen: „An Backbord sehen Sie eine Markierung, die den Wasserstand der Sturmflut von 1962 anzeigt...“ Mit einer Beweglichkeit, die man dem rüstigen Herrn nicht zugetraut hätte, hechtet dieser, während er die „unbewaffneten“ Touristen selbstsicher zur Seite drängt, nach Backbord, um gerade noch rechtzeitig die Worte des Kapitäns ins Bild zu bekommen. „Mit Video sitzen Sie in der ersten Reihe!“
Mag die Speicherstadt untergehen oder ausverkauft werden, sie ist auf jeden Fall auf der Magnetspur des Videobandes gespeichert. Egal, ob die Polkappen abschmelzen oder nicht: Die meisten Wohnzimmer sind inzwischen für Sintfluten oder Katastrophen jeglicher Art ausgerüstet. Das Wohnzimmer, ausgestattet mit Videorecorder und Videobändern, gleicht einer High-Tech-Arche in Kleinformat. Der moderne Noah sitzt im Fernsehsessel und regelt über die Fernbedienung den Lauf der Dinge. Auf den Regenbogen, das Versöhnungszeichen Gottes (1. Buch Moses, Kap. 9) wartet niemand mehr. Alles ist gegenwärtig, eine Frage der Kassettenverwaltung. „Hier unser Sohn mit zwei, mit vier und mit 14 Jahren, spul‘ noch mal zurück! Ist er nicht goldig?“ Nur der Zeugungsakt wurde nicht aufgenommen (noch nicht?).
Zuhause, neben dem Fernseher, entstehen neue Videogeographien. Weltordnungen. Da mündet die Speicherstadt im Grand Canyon; thailändische Tempeltänzerinnen lagern neben froststarrenden Eskimos am Lagerfeuer, und tänzelnde Pinguine verirren sich in der Wüste Gobi. Und das alles in Super- oder VHS-Qualität: „Alles (fast) wie in echt!“
Zurück zur Hafenrundfahrt. Wo genau befindet sich unser Videoreporter, wenn die rote Aufnahmeleuchte brennt? Ist er ganz bei der Sache oder träumt er etwa von „Videotopia? „enriching society through video communication“, wie es in der Werbebroschüre eines großen Elektronikkonzerns heißt. Wäre unser Freund ganz bei sich und dem, was er erlebt, versunken im Naturerlebnis - würde er es genießen, daß ihm eine steife Brise um die Ohren weht. Die Wasserspritzer, die ab und zu in seinen Hemdkragen eindringen könnten, würde er dankbar aufnehmen, weil diese ihn den Unterschied zwischen Film und Wirklichkeit fühlen ließen. Wäre er richtig bei der Sache, müßte er die Kamera eigentlich als Fremdkörper, als elektronischen Parasiten ansehen, der sich von dem, was unser „Videot“ erlebt, ernährt.
Abgesehen davon, daß der Videofilmer freiwillig einen 3.000 D-Mark teuren Buckel mit sich herumschleppt, der Wasserspritzern oder anderen mechanischen Beanspruchungen hilflos ausgeliefert ist, zwingt es seinen Besitzer außerdem noch, genauso zu sehen, wie es selbst, nämlich einäugig wie ein Zyklop. Dennoch, Video strahlt eine ungebrochene Faszination auf die Menschen aus. Es müssen wohl noch andere Wirkkräfte eine Rolle spielen. Einäugiges Sehen beispielsweise ist schon längst Normalität, ist nichts anderes als der Fernsehblick, den wir seit Jahrzehnten eingeübt haben.
Ist Video - einmal positiv betrachtet - eine Möglichkeit, die den Zuschauer dazu veranlassen könnte, aus seiner Konsumentenhaltung auszubrechen? Sicherlich gibt es emanzipatorische Videoarbeit, Beispiele für den kreativen Umgang mit der Videokamera. Videotopia - warum nicht? Eine Welt, die unserer in irgendeiner Weise voraus wäre. Video könnte Dinge einsehbarer machen, die wir nicht einsehen wollen. Nicht umsonst heißt es, ein Bild sagt mehr als tausend Worte.
Das Gros der Videofilmer begnügt sich allerdings damit, die eigenen vier Wände immer weiter nach außen zu dehnen. Was dabei herauskommt, ist eine unbegrenzte Privatsphäre. Meine Cheops-Pyramide, meine Speicherstadt, ich auf den Bahamas. Narzißmus hoch zehn. Sammelte der Urlauber früher Andenken, kleine versilberte, verkitschte Teller oder Aschenbecher, in deren Böden Sonnenuntergänge (vor Capri) abgebildet waren Sonnenuntergänge, in dich sich daheim bequem abaschen ließ -, werden heute Videos mit nach Hause gebracht. Darauf sind dann die letzten Überreste vom brasilianischen Regenwald erkennbar. Auch der letzte Kilometer unbebauten weißen Algarvenstrandes ist auf der Kasette zu bestaunen, aber auch nur deshalb, weil man diesen letzten von Hotels verschonten Ort so aufgenommem hat, daß man die Baukräne und Planierraupen beim Filmen im Rücken hatte und die Preßlufthammer gerade einmal schwiegen, weil die Bauarbeiter gerade Siesta feierten.
Irgendwie ist das Ganze auch verständlich. Zuerst wurde einem die Welt von anderen ins Haus geliefert, jetzt zieht man selbst los, um sich ein letztes Mal von der Authentizität der Welt zu überzeugen.
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