: Brasilien: Wie lange hält die Freude der BMW- und Porsche-Fans?
■ Thesen zur fundamentalen Neuorientierung der Industriepolitik unter Präsident Collor de Mello: Vom Merkantilismus zum modernen Wettbewerbskapitalismus
DOKUMENTATION
Von Jörg Meyer-Stamer
Die brasilianische Oberschicht jubelt: Endlich kann sie sich mit Porsches und BMWs eindecken, hat doch die Regierung kürzlich das Importverbot für Autos aufgehoben. Die Einfuhr von Luxuskarossen ist ein Nebenaspekt der fundamentalen Neuorientierung der industriellen Entwicklungspolitik der neuen brasilianischen Regierung. Alle ihre Vorgängerinnen verfolgten eine Strategie der importsubstituierenden Industrialisierung. Geboren als pragmatische Lösung aus der Not der Weltwirtschaftskrise von 1929/32, wurden schon in den fünfziger Jahren von lateinamerikanischen Ökonomen wie Raul Prebisch ihre Grenzen erkannt; Prebisch betonte damals bereits die Bedeutung des Referenzrahmens Weltmarkt.
Dennoch wurde dieses Modell in den fünfziger und sechziger Jahren ideologisch überhöht, paßte es doch gut zu der Interessenlage auf nationale Unabhängigkeit bedachter Militärs oder an der Diversifizierung bequemer Renteneinkommen interessierter Unternehmer. Überdies schien es gewisse Erfolge zu haben; in Brasilien zeigten die hohen Wachstumsraten der späten sechziger bis weit in die siebziger Jahre eine dynamische indu strielle Entwicklung an. Gegen Ende der siebziger Jahre jedoch mündete diese Strategie direkt in die Schuldenfalle; und wenn heute in Brasilien über ein neues Modell wettbewerbsorientierter Integration in den Weltmarkt industrieller Entwicklung nachgedacht wird, dann deshalb, weil das alte Modell ganz offensichtlich am Ende ist.
Betrachtet man die Situation der brasilianischen Industrie, so springen drei Merkmale ins Auge.
Erstens: Brasilien hat in den letzten Jahren den weltweit drittgrößten Ausfuhrüberschuß erwirtschaftet. Verantwortlich dafür waren zum großen Teil Exporte von Industriegütern. Brasilianische Industrieunternehmen aus Branchen, in denen das Land „natürliche“ Wettbewerbsvorteile hat (also in der Verarbeitung von Rohstoffen und landwirtschaftlichen Erzeugnissen sowie der Herstellung von Billiglohnprodukten wie Schuhen oder Bekleidung) sind international außerordentlich wettbewerbsfähig. In anderen Branchen wie der Autoproduktion hat die brasilianische Regierung mit hohen Subventionen multinationale Konzerne, deren Tochterunternehmen sich im geschützten Binnenmarkt zur Ruhe gesetzt hatten, zum Exportieren bewegt.
Zweitens: In bestimmten industriellen Kernbereichen beobachtet man seit einiger Zeit eine krisenhafte Entwicklung. In der Maschinenbauindustrie beispielsweise ist in den letzten zehn Jahren kaum investiert worden; der technologische Rückstand ist daher heute entscheidend größer als noch vor zehn Jahren. Selbst in der vielgelobten Computerindustrie sieht es nicht viel besser aus, denn trotz aller Eigenanstrengungen hat es die Industrie in den fünfzehn Jahren ihrer Existenz nicht geschafft, den technologischen Rückstand gegenüber dem Ausland zu reduzieren und damit - wie die Unternehmen aus Südkorea und Taiwan - international konkurrenzfähig zu werden. Ihre Exporte lagen bislang nie über fünf Millionen US-Dollar pro Jahr; Brasilien erwirtschaftet mit Computern geringere Deviseneinnahmen als mit dem Verkauf von Fußballern.
Drittens: Es ist wenig hilfreich, die brasilianische Industrieentwicklung unter dem Stichwort „Kapitalismus“ zu analysieren. Industriepolitisch waren die Ideen und Instrumente eher merkantilistisch. Als Ergebnis dessen hat Brasilien zwar einen entwickelten Industrieapparat; die Importquote für Industrieprodukte ist sehr niedrig, weil fast alle im Land gefertigt werden können. In den meisten Bereichen jedoch herrschen monopolartige Angebotsstrukturen; Monopolanbieter oder Kartelle können Preise beliebig festsetzen und sind keinerlei Konkurrenzmechanismen ausgesetzt.
Es war hauptsächlich dieser letztgenannte Tatbestand, gegen den der neugewählte Präsident Collor de Mello in seinem Wahlkampf heftig polemisierte. Allzu offensichtlich waren viele Nachteile des alten Modells mit einem Machtmißbrauch der „cartorios“ verbunden, und hohe Preise und schlechte Qualität zehrten an den Nerven der brasilianischen Konsumenten. Das neue Modell der Industriepolitik stellt mithin den Versuch dar, den Übergang vom Merkantilismus zum modernen Wettbewerbskapitalismus in die Wege zu leiten. Brasilianische Unternehmen - so eine der Ideen hinter der Politik - haben es heute kaum noch nötig, vor der „übermächtigen Konkurrenz aus dem Norden geschützt“ zu werden (so Gaby Weber, taz vom 4.7.).
Ganz im Gegenteil haben die nationalen Unternehmen (und erst recht die Multifilialen) es nötig, dieser Konkurrenz ausgesetzt zu werden, damit sie ihre Preispolitik überdenken und qualitativ höherwertige sowie technologisch modernere Produkte (zum Beispiel energie- und umwelteffiziente Erzeugnisse) auf den Markt bringen; das Potential dazu ist nach allgemeiner Ansicht in vielen Unternehmen vorhanden. Dies kann natürlich nicht von heute auf morgen geschehen, weshalb die neue Industriepolitik auf einen graduellen Übergang zielt. Die bisherigen Maßnahmen haben die Protektion eher noch erhöht: Zwar wurden Marktreserven, daß heißt absolute Importverbote, aufgehoben, dafür jedoch die Zölle und sonstigen Importabgaben kräftig erhöht; die effektiven Zölle beispielsweise wurden mehr als vervierfacht. Dies soll sich im Laufe der nächsten vier Jahre ändern. Die Zölle sollen schrittweise gesenkt werden, um die nationale Industrie ausländischer Konkurrenz auszusetzen. Man erhofft sich davon nicht nur eine verbesserte Angebotssituation auf dem Binnenmarkt, sondern auch eine Verbesserung der Konkurrenzsituation brasilianischer Unternehmen auf dem Weltmarkt.
Die Freude der BMW- und Porsche-Fans könnte im übrigen verfrüht gewesen sein: Die Regierung denkt laut darüber nach, die Importe von Luxusgütern nicht nur mit hohen Abgaben zu belegen, sondern auch in Zukunft zu beschränken. Man will schließlich nicht den Luxuskonsum fördern, sondern die Modernisierung der brasilianischen Volkswirtschaft.
Jörg Meyer-Stamer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Deutschen Institut für Entwicklungspolitik in West -Berlin.
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