: Hofstaat und Über-Ich
■ Norbert Elias - eine Würdigung des letzte Woche verstorbenen Soziologen
aus dem Land Michel Foucaults
Von Roger Chartier
Roger Chartier ist der herausragende Vertreter der jüngeren Generation der französischen Historikerschule um die Zeitschrift 'Annales‘. Mehrere seiner Veröffentlichungen beschäftigen sich mit der Geschichte des Lesens und Gelesenwerdens, so „Pratiques de la Lecture“ oder seine „Histoire de l'Edition fran?aise“. Auf deutsch ist bei Wagenbach die Essay-Sammlung „Die unvollendete Vergangenheit“ erschienen. Elias‘ Werk „Über den Prozeß der Zivilisation“ beschäftigt sich mit der französischen Gesellschaft des Mittelalters und der frühen Neuzeit.
Dem französischen Leser scheint das Werk Norbert Elias‘ vertraut zu sein. Über den Prozeß der Zivilisation wird oft zitiert und verwendet, und es hat einen ganzen Forschungsbereich inspiriert oder ermutigt, der sich mit jenem Normalisierungsprozeß beschäftigt, der die Gesellschaft des Okzidents vom 16. Jahrhundert an bestimmt hat: die Kontrolle des Körpers, die Verinnerlichung neuer Verhaltensregeln und die Errichtung von neuen Werten. Wenn man Elias im Licht von Philippe Aris und Michel Foucault liest, gehört er zu einer Fragestellung, die vor allem auf die Transformation gesellschaftlichen Verhaltens achtet, einschließlich der Diskurse, die es normieren.
Das ist zwar nicht falsch, scheint mir aber den Entwurf von Norbert Elias zu verkürzen. Einer der Gründe für diese verkürzte Interpretation liegt in der äußerst späten Übersetzung seiner Bücher ins Französische: 1939 wurde in Basel Über den Prozeß der Zivilisation veröffentlicht, aber man mußte bis 1973 auf eine teilweise Übersetzung warten. Dieser Bruch von 35 Jahren blieb nicht folgenlos: er hat Elias von dem intellektuellen Kontext isoliert, in den sich seine Arbeit eingeschrieben hat. Dadurch ist die Modernität eines Werkes geschmälert worden, das zur Zeit von Lucien Febvre und Erwin Panofsky geschrieben wurde - und nicht zur Zeit Foucaults oder Bourdieus.
Elias lesen heißt also zunächst, den inneren Zusammenhang eines Werkes wiederzufinden, das von den französischen Übersetzungen verstümmelt und so seiner globalen theoretischen Bedeutung beraubt wurde. Der allem zugrundeliegende Schlüsselprozeß ist für Elias die Ausformung des modernen Staates mit seinem doppelten Monopol: der Steuerhoheit, welche die Abgaben zentralisiert und dem Souverän die Möglichkeit gibt, seine Getreuen und Diener in Geld statt in Ländereien auszuzahlen; und das Gewaltmonopol, das einzig dem König die Militärgewalt zugesteht und ihn so zum Meister und Garanten der Befriedung des gesamten sozialen Raums macht.
Der absolutistische Staat: schwächer als alle, stärker als alle einzelnen
Die steuerliche und militärische Monopolisierung, die alle Attribute der Macht in den Händen des absoluten Souveräns konzentriert, ist wiederum die Folge eines doppelten Prozesses. Zum einen bildet sie den Abschluß einer sich über Jahrhunderte erstreckenden Konkurrenz verschiedener Herrschaftseinheiten. Die Hegemonie der stärksten unter ihnen bedeutet letztlich die fortschreitende Eliminierung aller ihrer potentiellen Konkurrenten, die in Abhängigkeit geraten. Das Gesetz dieser Monopolisierung, das er aus der Beobachtung der Gesellschaften des 20. Jahrhunderts konstruiert, formuliert Elias so: „Wenn in einer größeren, gesellschaftlichen Einheit viele der kleineren, gesellschaftlichen Einheiten, die die größere durch ihre Interdependenz bilden, eine relativ gleiche gesellschaftliche Stärke haben und dementsprechend frei ungehindert durch schon vorhandene Monopole - miteinander konkurrieren können (also vor allem um Subsistenz- und Produktionsmittel) dann besteht eine sehr große Wahrscheinlichkeit, daß einige siegen, die anderen unterliegen und daß als Folge davon nach und nach immer weniger über immer mehr Chancen verfügen, daß immer mehr aus dem Konkurrenzkampf ausscheiden müssen und in direkte oder indirekte Abhängigkeit von einer immer kleineren Anzahl geraten“ (Über den Prozeß der Zivilisation, S.144). In einer Fußnote deutet Elias an, daß es vermutlich möglich sei, diesem Gesetz eine mathematische Form zu geben.
In seinem Buch von 1939 wendet Elias dieses Gesetz nicht auf Wirtschaftseinheiten an, sondern auf politische, um Hegemonie kämpfende Einheiten, und zwar dort, wo die territorialen und wirtschaftlichen Bedingungen dem Monopolisierungsprozeß seine „reinste“ Form gegeben haben: im Frankreich des 11. bis 14. Jahrhunderts. Hier wird die Zahl der Anwärter auf die Hegemonie durch den freien Wettbewerb nach und nach reduziert (zu Beginn des 14. Jahrhunderts sind es nur noch fünf: der König von Frankreich, der englische König, die Fürsten von Burgund und der Bretagne und der Graf von Flandern). Mit der Erstarkung des Hauses Frankreich verdoppelt sich dieser Wettbewerb durch eine Konkurrenz im Inneren der Königsfamilie, genauer: zwischen dem König und seinen Eltern, denen die Apanage gehört.
Nachdem er seinen englischen Rivalen beseitigt und seine familiäre Konkurrenz domestiziert hat, kann der König von Frankreich schließlich schon sehr früh, zu Beginn des 14.Jahrhunderts, seine Gebietshegemonie etablieren. Die relative Frühe und die Modalitäten des königlichen Sieges erklären sich aus der Gestalt des derart beherrschten Raumes: sein Gebiet ist kleiner, geschlossener und besser integriert als das deutsche, aber zugleich weniger begrenzt als das englische. Das Gebiet der Hegemonie des französischen Königs weist derart die besten Voraussetzunhen für die Monopolordnung auf, die den absolutistischen Staat auszeichnet.
In dem Maße wie sie ihre Konkurrenten beseitigt, verändert sich die dominierende Herrschaftseinheit von Innen her. Die Errichtung des persönlichen Monopols, die den Absolutismus charakterisiert (im Unterschied zur kollektiven Übernahme des staatlichen Monopols in den bürgerlichen Demokratien) beruht nämlich auf einem Gleichgewichtszustand zwischen den mächtigsten sozialen Gruppen: „Die Stunde der starken Zentralgewalt innerhalb einer reich differenzierten Gesellschaft rückt heran, wenn die Interessenambivalenz der wichtigsten Funktionsgruppen so groß wird und die Gewichte sich zwischen ihnen so gleichmäßig verteilen, daß es weder zu einem entschiedenen Kompromiß, noch zu einem entschiedenen Kampf und Sieg zwischen ihnen kommt“ (S.236) Die Beziehungen zwischen den herrschenden Gruppen (etwa dem Adel und dem Bürgertum im Ancien Regime) haben zwei Gesichter: sie sind gerade solidarisch genug, um den gesellschaftlichen Mechanismus nicht zu zerstören, von dem ihre Existenz abhängt, aber zugleich zu konfliktreich, als daß sie sich gegen den Souverän zusammenschließen könnten. Dieses (von Elias als Königsmechanismus bezeichnete) Gleichgewicht zwischen Gruppen, die zugleich Partner und Rivalen sind, stellt die beste Voraussetzung für die Ausbildung der absolutistischen Macht dar. Der König ist schwächer als die Gesamtheit der Gesellschaft, aber in jedem Fall mächtiger als eine einzelne Gruppe. Deswegen ist der Antagonismus zwischen den herrschenden sozialen Kräften nicht allein die Folge einer ersten Ausdifferenzierung der sozialen Funktionen. Seine Reproduktion ist auch das Werk eines Königs, der nacheinander eine Gruppe gegen eine andere ausspielt und so das „Gleichgewicht der Kräfte“ aufrechterhält, das für die Fortdauer des staatlichen Monopols notwendig ist.
Das Gleichgewicht
der Rivalität
So kommt es zunächst zu einer gleichzeitigen Stärkung des monarchistischen Staats und der Ämter-Bourgeoisie, die vom König gegen die Ansprüche der Aristokratie eingesetzt wird; und so ist auch die zentrale Rolle des Hofes als Instrument der Beherrschung, aber auch des Schutzes des Adels zu erklären. Denn der Hof wird die entscheidende Einrichtung, um das Geflecht der Spannungen, auf denen die Macht des Königs beruht, auszudrücken und zu regulieren. Der Hof sichert die Abhängigkeit und die Nähe (also die Kontrollierbarkeit) der gefährlichsten potentiellen Konkurrenten des Monarchen; und zugleich bildet er ein notwendiges Gegengewicht zur bürgerlichen Macht. Der Königshof wird so zum Grundstein der Strategie des Monarchen, Spannungen zu reproduzieren: „Wenn sich diese Konstellation mit ihrem außerordentlichen Spannungsreichtum im Spiel der Verflechtungsprozesse einmal hergestellt hat, dann ist es für den Zentralherrn lebenswichtig, sie in ihrer ganzen Labilität aufrechtzuerhalten. Diese Aufgabe aber erfordert eine möglichst genaue Überwachung der Untertanen.“ (S.274)
Diese grob skizzierte Analyse verlangt mehrere Bemerkungen. Zunächst ist klar, daß Elias einen Ansatz ablehnt, der aus dem absolutistischen Staat ein simples Anhängsel oder Herrschaftsinstrument einer „herrschenden“ Klasse machen will. Die „absolute“ Monarchie ist gerade deswegen absolut, weil sie von keiner gegebenen gesellschaftlichen Gruppe allein abhängig ist, sondern mit einem „Spannungsgleichgewicht“ umgehen kann, durch das sie erst möglich wird. Auch wenn er nicht ausdrücklich zitiert wird, muß man hier an Tocqueville denken. Nicht allein, weil auch für Tocqueville die Macht des Ancien Regime von dessen Unabhängigkeit gegenüber dominierenden Gruppen der Zivilgesellschaft abhängt. In einer Fußnote des L'Ancien Regime et la Revolution beschreibt er die Entstehungsbedingungen des absolutistischen Staates (von ihm „demokratische Monarchie“ genannt) in Begriffen, die Elias sehr nahe stehen: „Weil alle Monarchien zur selben Zeit absolut geworden sind, besteht kaum ein Grund zur Annahme, daß diese Veränderung von irgendwelchen besonderen Umständen abhängen könnte, die im gleichen Moment in jedem Staat aufgetreten wären. Also muß man davon ausgehen, daß alle diese gleichartigen und gleichzeitigen Ereignisse von einer generellen Ursache ausgelöst worden sind, die überall zur gleichen Zeit wirksam war. Diese allgemeine Ursache war der Übergang von einem gesellschaftlichen System zu einem anderen: von der feudalen Ungleichheit zur demokratischen Gleichheit. Der Adel lag bereits am Boden, und das Volk hatte sich noch nicht erhoben; die einen waren zu tief, die anderen noch nicht hoch genug, um die Bewegungen der Macht zu stören. Das waren die 150 Jahre eines goldenen Zeitalters für die Fürsten, in denen sie sowohl Stabilität als auch unumschränkte Macht genossen, Dinge, die sich gewöhnlich auszuschließen pflegen: sie waren so sakrosankt wie die Erbprinzen einer feudalen Monarchie, und so absolut in ihrer Macht wie der Führer einer demokratischen Gesellschaft.“
Bei Elias ebenso wie bei Tocqueville hängt die Entstehung des absolutistischen Staates also nicht von der willentlichen und bewußten Handlung sozialer Subjekte ab, sondern ist Folge einer gesellschaftlichen Transformation, die von einer zunehmenden Ausdifferenzierung der sozialen Funktionen gekennzeichnet ist, also von einer verstärkten gegenseitigen Abhängigkeit der Gruppen untereinander. Dieser grundlegende Mechanismus sorgt sowohl für Solidarität als auch für Rivalität zwischen Adel und Bürgertum. Er ermöglicht erst das Steuermonopol des Staates, jenes zentrale Mittel der Zentralisierung, weil der Souverän nun seine Pfründe in Form von Geld und nicht mehr durch das Abtreten von Land verteilen kann. Die zentrifugalen Tendenzen, die der alten Landzerstückelung innewohnten, sind gebrochen und das Monopol des Staates solide abgesichert. Der Absolutismus ist also nicht die Folge eines individuellen Entschlusses, etwa des Monarchen, sondern stellt eine politische Figur dar, die einer bestimmten Wechselbeziehung zwischen Menschen am besten angepaßt ist.
In dem Denken von Elias ist der Begriff der Interdependenz von zentraler Bedeutung, denn nur durch ihn lassen sich die geschichtlichen Prozesse nicht als Folgen individueller Absichten noch als Wirken einer Vernunft fassen. Gegen Hegel und gegen den deutschen Historizismus betont Elias die zwingenden Kräfte der Interdependenz, die zu jeder Zeit die den sozialen Kräften eigene Konfiguration bestimmen: „Alles, was bisher an einzelnen Erscheinungen erwähnt wurde, also etwa auch die langsame Hebung des Lebensstandards der breiteren Bevölkerungsschichten, die stärkere funktionelle Abhängigkeit der Oberschichten oder die Stabilität der Zentralmonopole, alles das sind Folge- und Teilerscheinungen einer bald rascher, bald langsamer fortschreitenden Funktionsteilung.“ (S.422). Elias lehnt jene klassische Debatte von Freiheit und Notwendigkeit ab (denn beide Konzepte setzen die Vorstellung des isolierten Subjekts voraus). Ihm geht es um die Suche nach „Formationen“ oder Dispositiven, die die Menschen aneinander binden und so den Raum ihrer möglichen Entscheidungen und Handlungen vorzeichnen. Die Umrisse und Inhalte dieser „Formationen“ (etwa des Hofes) sind selbst wieder Resultat komplexer geschichtlicher Prozesse, in denen sich - in wechselseitiger Beziehung - die Ausdifferenzierung der Gesellschaft und die Einrichtung des Staates abspielt.
Vom gesellschaftlichen Zwang zur Selbstzensur
Nur vor diesem Hintergrund können die Veränderungen der Sensibilität und des Verhaltens verstanden werden, die für Elias konstitutiv für den Prozeß der Zivilisation sind. Die Umwandlung der psychischen Ökonomie der Individuen ist tatsächlich die Folge zweier grundlegender Tatsachen: die Ausbildung des staatlichen Machtmonopols, wodurch der soziale Raum befriedet wird, zwingt gleichzeitig zur Triebunterdrückung; und die Verdichtung der Beziehungen zwischen den Individuen führt notwendig zu einer Verstärkung des inneren Zwangs. Die zunehmende Ausdifferenzierung der sozialen Funktionen hat zugleich die Interdependenz der Handlungen vervielfacht und die Entstehung eines Zentralstaats ermöglicht - und bildet so die Grundlage für all die Mechanismen der individuellen Selbstkontrolle, die den abendländischen Menschen im Zeitalter der Moderne auszeichnen: „Mit der Differenzierung des gesellschaftlichen Gewebes wird auch die soziogene, psychische Selbstkontrollapparatur differenzierter, allseitiger und stabiler“ (S.319f). Der Prozeß der Zivilisation besteht also vor allem in der Umwandlung des gesellschaftlichen Zwangs in einen Selbstzwang. Die Kontrolle der Gefühle, die Unterdrückung der Spontaneität, die Beherrschung der Affektivität laufen über die Festigung eines „Über-Ich“, das den Kampf zwischen Zwang und Trieb, der sich früher auf der sozialen Bühne abspielte, ins Innere des Individuums verlegt. Für die Befriedung der Beziehungen zwischen den Menschen muß der Preis einer wachsenden inneren Spannung bezahlt werden: „Nun verstärken sich proportional zur Abnahme der äußeren die inneren Ängste, die Ängste des einen Sektors im Menschen vor dem anderen. Auf Grund dieser inneren Spannungen beginnen die Menschen nun, sich gegenseitig beim Umgang miteinander in einer Weise differenziert zu erleben, die dort, wo die Menschen beständig starke und unabwendbare Bedrohungen von außen zu erwarten haben, notwendigerweise fehlt“ (S.306).
Auch wenn Freud an dieser Stelle nicht genannt ist, steht er selbstverständlich im Hintergrund einer derartigen Analyse - wenn auch uneingestanden. Elias arbeitet mit Begriffen der Psychoanalyse (etwa mit Verdrängung oder Sublimierung), läßt jedoch bewußt die Freudsche Terminologie beiseite. Denn für Elias gibt es keine universellen Kategorien des Psychischen, sondern ledigleich geschichtlich bestimmte und veränderliche Bestimmungen der psychologischen Strukturen. Ebenso wie die sozialen Formen (Staat, Hof, etc.) sind dies keine „natürlichen Objekte“, die universell gefaßt werden können, sondern Dispositive, deren Figur von jeder Etappe der gesellschaftlichen Entwicklung gezeichnet wird. Psychische Kategorien sind in ihrer Definition und ihrer Ökonomie nach den zu einem bestimmten Moment zwischen den Menschen bestehenden Beziehungen geformt. Elias macht dies an einer ganz zentralen Stelle deutlich: „Maßgebend für einen Menschen, wie wir ihn vor uns sehen, ist weder allein ein 'Es‘, noch allein ein 'Ich‘ oder 'Über-Ich‘, sondern immer und von Grund auf die Beziehung zwischen diesen, teils miteinander ringenden, teils miteinander kooperierenden Funktionsschichten der psychischen Selbststeuerung. Sie aber, diese Beziehungen im einzelnen Menschen selbst, und damit sowohl die Gestalt seiner Triebsteuerung wie die Gestalt seiner Ich- und Über-Ich-Steuerung, sie wandelt sich als Ganzes im Laufe des Zivilisationsprozesses entsprechend einer spezifischen Transformation der Beziehungen zwischen den Menschen, der gesellschaftlichen Beziehungen“ (S.390). Diese Historisierung von Kategorien, die als fundamental, also ewiglich und universell, verstanden wurden, macht auch nicht halt vor den Schlüsselbegriffen der idealistischen Tradition: Verstand und Vernunft im Sinne Kants: „Alles das existiert nicht - wie es die Wortbildung zu denekn nahelegt
-relativ unberührt von dem geschichtlich-gesellschaftlichen Wandel in der gleichen Weise, wie etwa Herz oder Magen existieren; sondern es sind Ausdrücke für eine bestimmte Modellierung des ganzen Seelenhaushalts“ (S.378), eine Modellierung, so könnte man hinzufügen, die vor allem von der Dichte und der Art der sozialen Beziehungen abhängt.
In dieser Transformation des psychischen Haushalts spielt die höfische Gesellschaft eine entscheidende Rolle. In ihr bilden sich die neuen Beziehungen zwischen den Menschen und die neuen Verhaltensregeln aus. Wie in einem Laboratorium werden hier Selbstkontrolle, Beobachtung des Anderen und die Beherrschung ungehöriger Gefühle und spontaner Regungen erprobt, ebenso die Regulierung des Triebhaushalts und eine restriktivere Definition des Schamgefühls. Durch die Zwänge und Regeln bei Hofe wird eine neue Struktur des individuellen Gefühlslebens gestaltet - ein neuer psychischer Habitus. Dieser erfüllt historisch paradoxerweise eine doppelte Funktion. Zum einen basiert er auf der Unterscheidung zwischen Höfling und Gemeinem: „Durch die Etiquette gelangt die höfische Gesellschaft zu ihrer Selbstrepräsentation. Weil sich jeder vom anderen unterscheidet, und alle gemeinsam von Gruppenfremden, beweist sich jeder einzelne und alle zusammen, daß ihre Existenz von absolutem Wert ist“ (Die höfische Gesellschaft). Die neue Art, „in Gesellschaft“ zu sein, wird zum deutlich lesbaren Zeichen eines Unterschieds; die Einhaltung einer gewissen Zahl von Regeln wird zum kennzeichnenden Kriterium einer gesellschaftlichen Identität, die sich in Begriffen von kultureller Höherwertigkeit ausdrückt. Zum anderen aber ist der Hof, der eine seiner „raisons d'etre“ darin hat, einen minoritären Lebensstil zu bewahren, zugleich der Ort, von dem die neuen Verhaltensregeln und damit die neue psychische Ökonomie, verbreitet werden. Zunächst sind es die anderen Fraktionen der Oberschicht (etwa das Bürgertum), später die beherrschten Schichten, die in einem Prozeß sozialer Imitation ein Kulturmodell übernehmen, das von und für eine kleine Zahl von Adligen erarbeitet worden ist. Pierre Bourdieu würde diesen Vorgang als „Konkurrenzkampf“ bezeichnen.
Die Scham - die strengste Regel des „savoir vivre“
Diese Zirkulation von kulturellen Modellen wird von Elias mit aller Detailschärfe und ohne jede mechanische Konstruktion beschrieben. Weit davon entfernt, in ihr die einzig Verbreitungsart zu sehen, die angesichts einer unbeweglichen Elite möglich ist, faßt Elias sie als dynamische Abbildung der Beziehungen, die zwischen den Gruppen bestehen. In einer ersten „Kolonisations- oder Assimilationsphase“ stößt der Nachahmungswille des Bürgertums auf eine doppelte Schranke: die Hofaristokratie erhöht die Ansprüche in Sachen Zivilität, um die Differenz aufrechtzuerhalten, und weitet das Arsenal verbotenen Verhaltens aus, etwa indem sie die Schamschwelle verändert die strengste Regel des „savoir vivre“. Außerdem wirkt die Nachahmung des Bürgertums immer unbeholfen, übertrieben, unruhig und aufgesetzt. Ein solcher „Konkurrenzkampf“ hat eine integrierende Funktion insofern, als die Nachahmer ihre eigene Persönlichkeit vergessen zu machen suchen, und zugleich eine reproduktive, weil sie durch die Weitergabe von dominierenden Modellen die Verhaltensunterschiede verewigt.
In einer zweiten Phase, im 19.Jahrhundert, wächst die Macht des Bürgertums, und ein zweiter Code wird dominant, der Teile der alten aristokratischen Zivilität in das Wertesytem und die kollektive Ethik der neuen herrschenden Schicht einfügt. Je nach den jeweiligen Geschichte der Beziehungen zwischen Adel und Bürgertum verläuft der Prozeß der Zivilisation auf national unterschiedlichen Wegen: „Der Verhaltensstandard der Aufgestiegenen, das Schema ihrer Gebote und Verbote entspricht in seinem Aufbau der Geschichte dieses Aufstiegsprozesses. Und so kommt es, daß sich in dem Trieb- und Verhaltensschema der verschiedenen bürgerlichen Nationalverbände, in ihrem 'Nationalcharakter‘, ganz genau die Art der früheren Beziehungen zwischen Adels und Bürgerschichten und die Struktur der gesellschaftlichen Auseinandersetzung zeigt, in der einige von diesen schließlich zur Macht gelangten“ (S.421). Das derart zur Herrschaft gelangte neue Kulturmodell steht für eine neue Etappe im Prozeß der Zivilisation: der Zwang zur Arbeit, und eine strenge Teilung zwischen dem öffentlichen und Berufsleben und dem Bereich der Intimität, des Geheimen und Privaten. Eine noch strengere Trieb- und Gefühlskontrolle wird folglich notwendig, um im Beruf erfolgreich bestehen zu können. Wie im Fall der höfischen Sitten neigt der neue Verhaltenscode, der von denen, die ihn befolgen, als exklusiv empfunden wird, zur Universalität, weil er im nationalstaatlichen Rahmen Macht über das Volk gewinnt, und
-durch die koloniale Herrschaft - ebenfalls über die Völker, die von den Mächten des Abendlands abhängig sind.
Norbert Elias‘ Arbeiten gehen also weit über das hinaus, was die verspäteten, verkürzten, bisweilen verfälschenden Übersetzungen nahelegten. Wenn sein Werk im zeitlichen Zusammenhang und als Ganzes betrachtet wird, gewinnt es eine unerwartete Kraft, vermutlich, weil hier versucht wird, die zwischen unterschiedlichen Prozessen bestehenden Beziehungen zu fassen, und zwar auf eine Weise, wie es erst dreißig Jahre später wieder gewagt werden sollte: zugleich die Ausdifferenzierung des Sozialen, die Errichtung des modernen Staates, die Transformation des Verhaltens und der psychischen Strukturen. Gegenüber seinen Zeitgenossen Febvre oder Panofsky besteht die grundlegende Originalität von Elias darin, eine Frage, die alle drei bewegte, in Begriffen der Entwicklung und des Prozesses gestellt zu haben: Wie kann man die einheitliche Art des Denkens, des Handelns oder Seins begreifen, die in einer bestimmten Gruppe oder einer ganzen Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt anzutreffen ist? Mit Konzepten wie dem des „mentalen Werkzeugs“, wodurch es möglich wurde, die verfügbaren intellektuellen Instrumente einer Zeit zu charakterisieren; oder dem Konzept des Habitus, wodurch strukturellen Übereinstimmungen zwischen verschiedenen intellektuellen Produktionen einer Zeit Rechnung getragen werden kann, haben Febvre und Panofsky versucht, den bis dahin dominierenden Begriff des Zeitgeists neu zu denken. Jener Zeitgeist, der Burckhardt so teuer war, aber eben gerade das zu Erklärende und nicht das Erklärende ist. Doch beide, Febvre und Panofsky, suchen in der horizontalen Zeitebene gemeinsame Werkzeuge und Schemen auf, während sich Elias‘ Interesse vor allem auf jene Bewegung richtet, die langsam die „zivilisierten“ Gesten und Gedanken einrichtet, durch die sich ab dem 14. Jahrhundert der Mensch des Abendlands bestimmt.
Der Begriff des Prozesses ist also zentral und in ihm liegt die Modernität dieses Werkes, weil sie die sozialen und psychischen Formen als bewegliche Konfigurationen und nicht als Universalkategorien faßt. Der Staat wird niemals als die politische Instanz einer strukturierten Totalität begriffen; die psychische Ökonomie nie als ein gegebenes und universelles Ursprüngliches. Indem es auf Distanz zu Marx, Freud und Weber geht, kann uns das Denken von Norbert Elias heute noch begeistern, nicht nur wegen der Bündigkeit seiner Analysen, sondern vor allem durch seinen Entwurf: jeden Gegenstand innerhalb eines Beziehungssystems rekonstruieren, wodurch er seinen Zuschnitt und seine besondere Gestalt erhält.
Wir danken dem Gallimard- Verlag, Paris, für die Erlaubnis zum Abdruck. Aus dem Französischen von
Alexander Smoltczy
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