Zeitzünderbombe: Wer hat schon Angst vor seiner Stasi-Akte?

■ Zwei Millionen Dossiers über Bundesbürger verunsichern Politiker und Wirtschaftsbosse

Von Wolfgang Gast

Berlin (taz) - Innenminister Peter-Michael Diestel (CDU) ficht einen ausichtslosen Kampf: Wer sich personenbezogene Daten aus Stasi-Akten beschafft, weitergibt, verändert oder löscht, muß künftig mit einer Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren rechnen. So sieht es ein Gesetzentwurf seines Hauses vor, der von der DDR-Regierung verabschiedet werden soll. Auskunft über die eigenen gespeicherten Daten soll danach nur noch der bekommen können, der seinen durch die Stasi -Speicherung erlittenen Schaden glaubhaft machen kann.

Aufgeschreckt durch Meldungen über die mögliche Stasi -Vergangenheit von Volkskammerabgeordneten, durch intimste Berichte aus dem Privatleben Bonner Politiker oder über die Verquickungen der diversen Geheimdienste in terroristische Aktivitäten will eine große Koalition in der Bundesrepublik und der DDR den Zugriff auf das Archivmaterial des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) drastisch beschränken.

Grund dazu gibt es genug: In den über 100 Kilometer sichergestellten Akten könnte sich so manche brisante wie unangenehme Information finden. Beispielsweise zu den Behauptung von „Stern TV“, wonach es zwischen der Bundesregierung und dem SED-Staat Absprachen gegeben hat, als Anfang der achtziger Jahre die RAF-Aussteiger in der DDR Asyl erhielten. Auch so mancher westdeutsche Wirtschaftsstratege und Politiker dürfte es begrüßen, wenn die zwei Millionen Stasi-Dossiers über BürgerInnen der Bundesrepublik in den Reißwolf wanderten. Etwa die Herren von der Howaldts-Werke/Deutsche Werft AG. Bekanntermaßen haben die Stasi-Experten von drei technisch hochgerüsteten Schiffen in der Lübecker Bucht aus die Telefonate der Konzernspitze abgehört.

In den darüber angelegten Akten könnte sich nun einiges finden, was zur Aufklärung des illegalen U-Bootgeschäfte mit Südafrika und der Rolle der Bundesregierung darin beitragen könnte. Auch die bundesdeutschen Verfassungsschützer hätten bei Offenlegung aller Stasi-Akten einige Blamagen zu fürchten. Schließlich überwachten die Stasi-Lauscher nahezu ihren gesamten Telefonverkehr. Darüber hinaus lagert in den Archiven der Stasi nicht nur eine etwas veraltete Liste der europäischen Mitarbeiter des US-amerikanischen Geheimdienstes CIA, sondern neben einer komlpletten Auflistung der VS-Liegenschaften auch dessen Personaldaten.

Als der frühere Verteidigungsminister Manfred Wörner im Juni aus der 'Quick‘ vom jahrelangen Lauschangriff auf seinen Privatanschluß erfuhr und die Wortprotokolle der Telefonate seiner Ehefrau über seinen angegriffenen Gesundheitszustand nachlesen mußte, reagierten die Bonner Parlamentarier prompt. Mit einer Erweiterung des Paragraphen 201 des Strafgesetzbuches, die in Kürze in Kraft tritt, wird nun mit Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren bedroht, „wer unbefugt das nicht zu seiner Kenntnis bestimmte nicht öffentlich gesprochene Wort“ im Wortlaut oder in wesentlichen Inhalten veröffentlicht. Die Bundestagsmitglieder aus CDU, CSU, SPD und FDP schlugen mit der Verabschiedung des Entwurfes gleich zwei Fliegen mit einer Klappe. Bislang war in der Bundesrepublik nur das Aufzeichen, nicht die Veröffentlichung des illegaler Telefonmitschnitte verboten.

Eine Gesetzeslücke, die beispielsweise den nordrhein -westfälischen Landesvater Johannes Rau 1987 in arge Bedrängnis brachte, als unter anderem die taz die Mitschrift eines Telefonats veröffentlicht hatte, in dem Krupp-Stahl -Chef Gerhard Cromme über ein Gespräch mit den Spitzenpolitikern der SPD-Landesregierung in Sachen beabsichtigter Schließung des Rheinhausener Krupp-Werkes berichtete.

Bundesinnenminister Schäuble hat mittlerweile auf dem Dienstweg die Vernichtung von Stasi-Akten anordnen lassen, wenn den Lesern in den Verfassungsschutzämtern Passagen über zu intime Details der Ausgespähten zu Augen kommen. Die Akten sollten nach Möglichkeit sogar ungelesen in den Reißwolf wandern. In den Besitz dieser Schriftstücke gelangten die westdeutschen Sicherheitsdienste durch Überläufer, die sich mit dem Stasi-Material ein warmes Plätzchen im westdeutschen Wohlstandsland erkaufen wollten.

Niemand vermag zur Zeit zu sagen, wer von den ehemaligen MfS-Mitarbeitern sich eine derartige Altersvorsorge beschafft hat. Unter den Bürgerkomitees ist unbestritten, daß zu Zeiten von Egon Krenz jede Menge Unterlagen aus den Stasi-Dienststellen geschleppt wurde.

Diestels Gesetzesinitiative ist auch eine Reaktion darauf, daß in Ost-Berlin schon mehrfach Stasi-Akten über Westbürger zum Kauf angeboten wurden. Überläufer wollen darüber hinaus wissen, daß ein Teil des brisanten Materials bereits an den sowjetischen Geheimdienst KGB übergeben wurden.