: Zu Besuch beim Sachsenradio Leipzig
■ Intendant Müller setzt auf Kooperation mit anderen Landessendern / Regionalprogramm will Bezirksgrenzen sprengen
Ein leichter Hauch von frischem Beton zieht durch das zweitälteste Funkhaus Deutschlands, in dem das Sachsenradio vorerst seinen Platz gefunden hat. Das Gebäude muß entsprechend den neuen Anforderungen umgebaut und erweitert werden. Schreibtische werden gerückt, aber nicht geräumt, „im Gegenteil“, erklärt Intendant Manfred Müller, „ich unterschreibe täglich Arbeitsverträge, keine Kündigungen, und mein Bedarf an ungefähr 40 bis 50 möglichst jungen Journalisten ist noch lange nicht gedeckt“. Und das, obwohl ungewiß ist, ob der sächsische Rundfunk seinen Hauptsitz in Leipzig behalten wird oder den Forderungen der KollegInnen aus Dresden, der zukünftigen Landeshauptstadt, nachzugeben hat, welche die Zentrale für sich beanspruchen. Der Verweis auf die Tradition - der Mitteldeutsche Rundfunk wurde hier gegründet - interessiert ebensowenig wie die Tatsache, daß eine unvergleich bessere technische Ausstattung zur Verfügung steht.
Darüber aber, sowie über ein sächsiches Rundfunkgesetz, hat das zukünftige Landesparlament zu befinden. Vorerst konzentrieren sich sämtliche Aktivitäten darauf, den Sendebetrieb von Sachsen I zu garantieren, das am 1.Juli sein Programm aufnahm. Dabei war Manfred Müller erst neun Tage zuvor in sein Amt eingeführt worden. als er sich an die Arbeit machte. Das Sendeschema entstand gleichsam in einer Nacht- und Nebelaktion: „An einem Klausurwochenende haben wir ein Programm gebaut und so getan, als ob es dabei keine Probleme gäbe.“ Eine Formulierung, die sicherlich vieles verharmlost; schließlich mußte Müller neben den Ansprüchen aus Dresden die partiellen Interessen dreier ehemaliger Bezirkssender unter einen Hut bringen, die mit Wirkung vom 1.Juli aufgelöst sind. Eine Maßnahme, die helfen soll, föderale Strukturen zu entwickeln. Einigkeit wird bestimmt auch das „sächsische Bewußtsein“ gestiftet haben. Von vielen im Munde geführt, kann es bei Nachfrage jedoch meist nur als Gegenreaktion auf die Zentralverwaltung in Berlin definiert werden.
Der psychische Scherbenhaufen scheint größer als angenommen; die Verwundungen und Demütigungen durch die Hauptstädter klaffen tief. Ein Grund dafür, weshalb die Haltung zu Berliner Rundfunkkollegen auch vorsichtig bis ablehnend formuliert wird. Das Wort „Zusammenarbeit“ scheint nicht zu existieren. Es findet in Müllers Erläuterungen eher Anwendung im Zusammenhang mit den anderen Landessendern. Vorstellbar wären da Mehrländeranstalten, die Organisierung eines gemeinsamen Nachtprogramms und des Programmaustauschs. Über solche Probleme berät eine ständige Direktorenkonferenz, der die Intendanten der fünf Landesrundfunkanstalten sowie die Chefin des Deutschlandsenders angehören. Alle Sender stehen vor der Aufgabe, sich ab 1991 selbst zu tragen, das heißt, sich aus den Werbeeinnahmen und Rundfunkgebühren zu finanzieren. Diese liegen mit zwei DM weit unter bundesdeutschem Niveau von acht DM. Auf der Suche nach Berührungsfeldern oder Ergänzungsmöglichkeiten wurden aber auch Überlegungen zu überregionalen Sendemodellen angestellt, ohne den Politikern vorgreifen zu wollen. Diese Kooperationsstrukturen sind allerdings bereits so gebaut, daß es schwer fallen dürfte, sie wieder zu entflechten.
800.000 Menschen hören laut Infas das 20stündige Tagesprogramm, das von den drei Funkhäusern der ehemaligen Bezirkssender Dresden, Chemnitz und Leipzig gesendet wird. Jede der drei Stationen hat bestimmt Sendezeiten, für die die Sender alleine verantwortlich sind. Der Sendeplan ist dementsprechend regional ausgerichtet: Fünfmal pro Woche gibt es den Sachsenabend, samstags wird vier Stunden lang die Sachsenfete gefeiert. Dabei begreift sich das Sachsenradio nicht als Regionalprogramm, es will mit den verinnerlichten Strukturen der Vergangenheit brechen, welche den Blick nur bis zur Bezirksgrenze, nicht aber darüber hinaus erlaubten. Ein Land Sachsen soll präsentiert werden, „das seine Position in Deutschland und in Europa finden wird“. Mittlerweile arbeitet man in der Springerstraße völlig autonom, nicht einmal mehr die Nachrichten werden von Berlin übernommen. Innerhalb einer Woche wurde eine eigene Nachrichtenabteilung aus dem Boden gestampft.
Zweite und dritte Programme plant Sachsenradio für den Oktober dieses Jahren. „Sachsen 2 wird“, so der Redakteur von Leipzig regional, Michael Zock, „jugendlicher klingen, richtig locker vom Hocker“, während das Zielgruppenalter von Sachsen I von 30 aufwärts veranschlagt wird. Sachsen 3 hingegen ist als Kulturschiene konzipiert, auf der der klassischen Musik ein gewichtiger Platz eingeräumt wird. Experimente wie die zwölfstündige Live -Übertragung einer Stadtverordnetenversammlung im Herbst '89 wird es allerdings nicht mehr geben, die politischen Verhältnisse haben sich grundlegend verändert. Solche Formen des Bürgerradios kann sich Müller jedoch in Modellen vorstellen, die natürlich nur schwer in der derzeitigen politischen Landschaft durchzusetzen sind. Aber um dem Lokalcharakter bestimmter Regionen besser Rechnung tragen zu können, wäre eine City Radio GmbH mit drei Gesellschaftern denkbar: dem Sachsenradio, der Stadt und einem Privaten. „Jede politische Gruppe der Stadt oder der Kommune könnte dort eine Stimme haben.“ „Rein theoretisch“, rechnet Müller, wäre Sachsen in der Lage, 23 Rundfunk- und Fernsehprogramme auszustrahlen. Doch das wird vorerst nur eine Utopie bleiben. Bleibt zu hoffen, daß die Mittel für fünf Landessender ausreichend sind.
Micha Möller
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