: „Ich traue uns zu zu regieren“
■ Aus der Rede der Grünen-Abgeordneten Antje Vollmer in der gestrigen Debatte zur „Vorbereitung der deutschen Einheit“
DOKUMENTATION
„Wenn ich mir die beiden Teile Deutschlands angucke, die nun so bald zusammenwachsen wollen, da fällt mir Mephisto aus dem Faust ein: 'Habt die Teile in der Hand / fehlt leider nur das geistig Band.‘
Es muß wohl mit dem fehlenden geistigen Band zu tun haben, daß die Teile des Vaterlands im Augenblick drastisch auseinanderfallen. Auch ist die Aufteilung zwischen beiden Teilen sehr ungerecht. Während in der DDR die Tragödie wächst, steigt hier bei uns die Burleske. An der Lösung der Tragödie hat sich der Bundestag nur mäßig beteiligt. Mitten in der schärfsten Phase der DDR-Probleme genehmigte sich der Bundestag zwei Monate Urlaubspause. Es ist kein gutes Zeichen für die politische Klasse, die die Parteien ja auch darstellen, wenn sie sich so selbst für überflüssig erklären. Ich glaube, später wird es niemand mehr verstehen, daß uns aus unserer Sommerpause nicht etwa eine Debatte über die Arbeitslosigkeit, über die Wohnungsnot, über die verzweifelte Lage der Bauern und Frauen in der DDR zurückgerufen hat, sondern nur diese Groteske einer Wahlrechtsdebatte im Eigeninteresse der Großparteien.
Der Grundsatz der Entscheidung der Mehrheit dieses Hauses in der Wahlrechtsfrage heißt: 'Die Fünf-Prozent-Klausel hat sich ungeheuer gut bewährt.‘ Das ist auch so ein Satz aus der Binnensicht einer politischen Klasse, die sich weit entfernt hat vom politischen Leben. Die Fünf-Prozent-Klausel hat sich bewährt für die, die im Parlament waren, das ist wahr. Uns aber, die wir künstlich Jahrzehnte unseres Lebens außerhalb des Parlamentes gehalten wurden in einer außerparlamentarischen Opposition, uns hat sie immer gequält.
Ich glaube, vieles in dieser Republik, in den sechziger und siebziger Jahren wäre ganz anders gelaufen, wenn es eine Möglichkeit gegeben hätte, die außerparlamentarischen Debatten in dieses Parlament hineinzutragen. Die parlamentarische Debatte ist per se auf Gewaltfreiheit verpflichtet und nötigt zum Konsens. Die außerparlamentarische Diskussion hat eine eigene möglicherweise gefährliche und gewaltsame - Dynamik. Und ich habe große Sorge, wenn das, was in der DDR jetzt außerhalb des Parlamentes passiert, wenn die Wut, die Ohnmacht, der Identitätsverlust überhaupt nicht mehr oder nur noch geschwächt im Parlament erscheinen können. Wo landet dann diese Wut? Aus diesem Grunde sind wir historisch klug geworden und ganz entschiedene Gegner der Fünf-Prozent -Klausel.
Wir sind auch Gegner eines schnellen Wahltermins. Natürlich, wenn die deutsche Einigung ein Wettrennen wäre, dann hätten Helmut Kohl und Lothar de Maiziere schon gewonnen.
Für Helmut Kohl scheint das ganz einfach. Immer war, wer die Einheit nicht so wollte, wie er sie wollte, ein Feind der Einheit. Immer war, wer die Einheit in einem anderen Tempo wollte, ein Gegner der Einheit.
Und diese Demagogie hat ja nicht schlecht funktioniert bisher. Machtpolitische Erfolge kann man dem Kanzler nun wirklich nicht absprechen (...)
Und die zentrale Frage dieses Wahlkampfes wird sein: 'Wie gehen wir mit der neuen Rolle Deutschlands als Weltmacht um?‘ (...)
Die europäische Welt hat keine Angst mehr vor den Deutschen, weil wir 1968 aufgebrochen sind, weil wir das Law -and-Order-Denken herausgeblasen haben aus diesem Land, weil wir, eine andere Generation, diese deutsche Gesellschaft gründlich zivilisiert haben. Und sie hat keine Angst mehr vor uns, weil die Menschen in der DDR, angestoßen von den Bürgerbewegungen, eine demokratische Revolution durchgeführt haben. Und darum ist das Bündnis von Grünen und Bürgerbewegungen mehr als ein ermutigender Beweis für unsere Politikfähigkeit unter Ihrem (Helmut Kohls, d.Red.) barbarischen Zeitdruck. Es ist vielmehr das historische Bündnis derer, die die Zukunft dieses neuen Deutschlands gestalten können, gerade weil wir die beiden einzelnen Teile Deutschlands schon vorher tiefgreifend verändert haben. Sie, Herr Bundeskanzler, profitieren von Veränderungen der Tiefenstruktur der deutschen Gesellschaften, die Sie immer nur bekämpft haben. Sie haben wirklich mehr Glück als Verstand gehabt. Das sei Ihnen gegönnt. (...) Aber die Chance für eine zivile Zukunft der Deutschen liegt gerade in der Chance, die beiden Vergangenheiten, die Erfahrung der Diktatur von links, die Erfahrung der Diktatur von rechts, nie wieder aus ihrem historischen Gepäck zu entlassen.
Allerdings gibt es auch Anforderungen an die Opposition in einer werdenden Weltmacht. (...)
'Habt die Teile in der Hand / fehlt leider nur das geistig Band.‘ Ich denke, meine Damen und Herren, die Kanzlermaschine ist schon heftig am Stottern. Und deswegen möchte ich mich lieber auf eine neue Generation von Politikerinnen und Politikern berufen, die schon Erfahrung in der Umgestaltung eines Unterbaus der Gesellschaft hat. Unsere Lehrzeit hat jetzt lange genug gedauert. Ich traue es uns zu, das neue geistige Band und das neue Konzept für eine Rolle der Deutschen in Mitteleuropa, die nicht triumphierend ist. Ich traue es uns auch zu, zu regieren. Ich bin zuversichtlich, daß die Grünen und die Bürgerbewegungen dieser Republik noch Beine machen werden für den überfälligen Wechsel der Generationen und der Regierung. Doch dazu brauchen wir vorderhand noch die SPD. Und die, das muß ich sagen, macht mir etwas Sorgen.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen