„Erfolg konsequent weiterentwickelt“

■ Ein Spaziergang durch Strausberg nebenan

Vieles hat sich geändert, und wie in einer echten Großstadt fährt man das Wochenende „ins Weekend“. Ab und zu auch in der Woche. Wenn man morgens losfährt, hat man, abends zurückgekommen, das Gefühl, als wäre man sehr lange fort gewesen.

Berlinhauptstadt geht in die Vorstadt über, und die Vorstadt wird von Laubenpieperkolonien ersetzt. Die meisten feierabendlichen S-Bahn-Fahrer steigen Hoppegarten aus. Dann kommt Strausberg-Vorstadt. Das beweist, daß Strausberg nicht Vorstadt von Berlin sein kann, denn danach kommt noch Strausberg-Stadt und dazwischen Hegermühle am Herrensee, und dann kommt Strausberg-Nord.

Strausberg-Stadt wurde 1240 unter dem Namen Struzberch gegründet, hieß zwischendurch Struzeberch, Strutzeberch, Civitate Nostre Strausberge, Strutzeberg, schließlich, seit 1578, Strausberg.

Fast 30.000 leben hier, doch die eigentliche Stadt wirkt so, als würden hier höchstens 10.000 wohnen.

Gleich am Bahnhof steht eine Bank, und neben der Bank steht eine Skulptur, die vormacht, was man zu zweit auf der Bank machen sollte, nämlich sich freundlich unterstützend festhalten. Wenn man ißt, kann man das nicht. Da muß man auf das Buch, das man mitbringt, und auf das Buch, das man in der Großen Straße gekauft hat, zurückgreifen und stellt eine gewisse Themengleichheit fest: Sowohl in Gehen von Thomas Bernhard als auch in der sehr schönen Ausgabe von Transatlantik von Witold Gombrowicz, das, weil der Verlag „Volk und Welt“ offensichtlich schlecht beraten ist, zur Zeit für lächerliche 7 Mark 20 wie auch die anderen Bücher des Verlags verramscht wird, spielt das Gehen eine gewisse Rolle: “... und ich Gehe, und Gehe immerzu, Gehe und Gehe, und mein Gang dröhnt ... und ich weiß nicht, was ich mit dem Gang anfange, denn da Gehe ich, Gehe ... oh welches Gehen, oh, was tue ich denn da, oh, wie ein Wahnsinniger Gehe ich da wohl und Gehe, Gehe und Gehe, sie werden mich wohl für einen Irren halten ... aber ich Gehe, Gehe ...“ (Gombrowicz). „Während wir immer gedacht haben, wir können Gehen und Denken zu einem einzigen totalen Vorgang machen auch für längere Zeit, muß ich jetzt sagen, daß es unmöglich ist, Gehen und Denken zu einem einzigen totalen Vorgang zu machen für längere Zeit. Denn tatsächlich ist es nicht möglich, längere Zeit zu gehen und zu denken in gleicher Intensität. ... Gehen wir intensiver, so läßt unser Denken nach, sagt Oehler, denken wir intensiver, unser Gehen. Andererseits müssen wir gehn, um denken zu können, sagt Oehler, wie wir denken müssen, um gehen zu können, eines aus dem andern mit einer immer noch größeren Kunstfertigkeit.“

So gehe ich allein auf die „große Straße„; durch die Einkaufszone einer Stadt, die zur Zeit, wohl nicht mehr lange, ihre Naturdenk mäler - alte Bäume, genauer: drei Eichen, eine Gleditschie, eine Eibe, eine Fichte, eine Rüster, drei Linden - in Deutsch und Russisch annonciert. Neben dreist häßlich obsiegenden „West„- oder „Stuyvesant„-Emblemen sieht man an vielen Geschäften noch Innungszeichen fürs Kinderspiel oder Tabakrauchen. Vor einer Halle, die einmal eine Spielhalle werden will, prangt ein merkwürdiges Spielautomatenplakat: „Multi Multi - Erfolg konsequent weiterentwickelt“. Die Altstadt ächzt in der Sonne; viele Fenster sind matt und leer und zerbrochen. Auf dem Leninplatz, neben einem legeren Lenin, der väterlich grinsend die Hände in seinen Hosentaschen vergraben hat, ist das Tiergeschäft. Katzenfutter wird mit einem launigen „Alles für die Katz“ angepriesen. Daneben, im „Argus„-Filmtheater, kämpft Arnold Schwarzenegger als „der Guate“ („wissen Sie - ich bin ja immer der Hero“) schon ab halb sechs für Hollywood. In der Wriezener Straße, gleich neben dem Kulturpark, stößt man auf den „OdF„-Gedenkhain. OdF - das ist die schon fast obszöne Abkürzung für die „Opfer des Faschismus“. Die Marmorplatte vor dem Ehrenhain hat ein paar Risse. An den Rändern bröckelt's. Gras wird nicht mehr gemäht. Am Ende des Hains eine Art Triptychon. Die Farbe ist an einigen Stellen abgeplatzt. KZ-Insassen links, trauernd, auch siegesgewiß. In der Mitte die Befreier. Rechts die heilige sozialistische Familie. Zukunftsfreudig ging es früher bei diesen Gedenkstätten immer auch darum, die Sieger der Geschichte zu feiern. Die Sieger der Geschichte sind nun andere. Und ob die Erinnerung „an die Opfer der Geschichte“ weiter als tägliche Aufgabe begriffen werden wird, ist fraglich.

Kaum ein Touristenführer findet Strausberg einer Erwähnung wert, obgleich die Gleise einer alten Straßenbahn in der Sonne flirren, obgleich sich der Strausberger See so wunderschön ans Stadtzentrum schmiegt, obgleich neben der sehr nostalgischen 50er-Jahre-Badeanstalt mit drei Rutschen (!) viele wunderbare kleine Buchten zum Baden einladen und die Straße am Ufer für den Verkehr gesperrt ist, obgleich eine Fähre, von einem Drahtseil gezogen, jeden, der es will, 300 Meter über den See fahren kann - dann ist man im „Strausberger und Blumentaler Wald- und Seengebiet“ und kann dort schön spazierngehen bis zum Kessel-, Fänger- oder Bötzsee, obgleich der Jugendklub am See samstags zwischen 20 und 22 Uhr mit Nachtboutique und „Klub Dance Show“ lockt da gibt's Dessous „zum Anfassen und Erwerben! Bringt also ein paar Mark mit!“ An anderen Tagen beginnt die Disko, für die Großen, um 22 Uhr 22 und endet um 3 Uhr 33; die Teeniedisko beginnt manchmal um 17 UHr 17 und endet um 20 Uhr. „Hallo Jungs und Mädchen der 7., 8. oder 9. Klasse.“ Im Gegensatz zu den Berliner Klubs, sind hier wirklich nur Teenager zwischen 13 und 17 zu finden. Wenn sie Probleme haben wegen Aids, Sexualität oder Arbeitslosigkeit, steht mittwochs zwischen 15 und 18 Uhr ein Sozialarbeiter unter Schweigepflicht zur Verfügung.

Zwischen Stadt und Vorstadt stehen die Vopos und halten die Autofahrer fest. Die Tochter vom Fernsehmeister ruft: „Mutti, hast du gesehen, da stehen die Buuullen!“ Und da steht der Friedhof, fein säuberlich in Parzellen gegliedert, und da sieht man schon die ersten Kastanien, der Sommer ist fast vorbei, und während draußen noch die Sonne herumschreit, entdeckt man in einer trostlosen Hochhaussiedlung den nächsten Jugendklub. „Club - Nein danke!“ steht an der Wand.

Viele Geschichten könnten hier drinnen geschehen zwischen der angemalten New-York-Skyline und den gelben Beinen der Puppe, die aus der Wand ragen. Viele Wünsche haben sich in den bonbonbunten Plastiktischdecken gesammelt und wollen heraus. Acht Jungs umringen zwei Mädchen. „Lieschen“ macht Musik.

Draußen steht der Klubleiter mit vielen Helferlein und fragt als erstes, ob ich denn nicht eine Parabolantenne kaufen wolle, und sagt als zweites, daß hier nichts los sei, und Berlin sei weit, und die Sexshops fangen erst ab Schöneweide an, und er bittet mich als drittes, nicht zu fotografieren, denn er sei ganz zufrieden mit seinem Stammpublikum - „das sind ganz normale Jugendliche“ - und wolle „keine Autonomen oder Skins“ hier haben, das gebe nur Ärger. Er ist wirklich besorgt.

Eine Stunde lang rollt die S-Bahn zurück bis in die Wohnung meiner Cousine; im Hof erzählt sie, gegenüber wohne „eine fette Autonomenfrau aus dem Westen“. An ihre Wand habe sie geschrieben „Nazis raus“. „Bin ich ja auch für“, so meine Cousine, „aber dann soll sie erst mal die Musik leise machen, daß die Kinder schlafen können.“ Als nächstes fragt sie mich, ob ich nicht eine Versicherung brauchen könnte. Oder ein Auto?

Detlef Kuhlbrodt