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Ein Wall der Isolierung, aus: PDS-Zeitung "Neues Deutschland" vom 11.08.90

DOKUMENTATION

Viele in der DDR mußten sich über lange Jahrzehnte überlegen, wo sie den Begriff „antifaschistischer Schutzwall“ verwendeten oder wo sie einfach von der „Mauer“ sprachen. Deutliches Zeichen einer Sprachschizophrenie, wie wir Noch-DDR-Bürger sie zum Teil erst jetzt in vielen politischen und gesellschaftlichen Bereichen feststellen.

Schulferien. Ich arbeitete als Schüler im August des Jahres 1961 in einer landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft im Kreis Merseburg, um mir mit einem damaligen Stundenlohn von 87 Pfennig einiges zu meinem Internatstaschengeld zuzuverdienen. Auch am Sonntag, dem 13. August 1961, war ich mit anderen Angehörigen der Freien Deutschen Jugend - und das war ich, um der Ehrlichkeit die Ehre zu geben, aus voller Überzeugung - im Ernteeinsatz, als uns die Aufforderung zu einem Kampfappell des 13. August erreichte.

Stehend vernahmen wir die Ansprache des damaligen Staatsratsvorsitzenden Walter Ulbricht an die Kampfgruppen der DDR und die Bevölkerung. Freiwillig meldete ich mich in der Nacht vom 13. zum 14.August 1961 zu einem FDJ -Versorgungstrupp, der im Bahnhof Halle Verladearbeiten zur Versorgung der Kampfgruppen-Hundertschaften in Berlin versah.

August, September, Oktober 1961 waren in den Leunawerken „Walter Ulbricht“ wie wahrscheinlich in allen großen Betrieben der DDR geprägt von Massenaufmärschen und Kampfappellen. Thema: „Störfreimachung der DDR-Wirtschaft“. Im Zuge der Sanktionen durch die Bundesrepublik und andere westliche Demokratien gegen den Bau der Berliner Mauer wurden der DDR-Wirtschaft Rohstoffe, Zwischenprodukte und Versorgungsgüter gesperrt.

Bis zum Jahre 1964 sah ich in dem Bau der Mauer die Errichtung eines antifaschistischen Schutzwalls, mit dem sich ein antifaschistischer Staat auf dem Wege zu einer sozialistischen Demokratie schützen müsse gegen einen Staat der Konzerne, in dem NaziRichter das Sagen haben. Und tatsächlich ertrug ja die bundesdeutsche Demokratie einen Staatssekretär Hans Maria Globke als obersten Personalbeamten, Personen wie General Gehlen, Frenkel, Bandera und später auch noch Herrn Filbinger.

Vor dem Hintergrund dieser einseitigen Betrachtungsweise ertrug mancher Bürger der DDR das härtere Maß an Arbeit in der Zeit nach 1961 und eine ganze Reihe von einschneidenden Rationierungen im Bereich der Versorgung mit Lebensmitteln und Waren des täglichen Bedarfs.

Erst 1964, als ich mich mit den Auffassungen des Antifaschisten Professor Robert Havemann, mit den Theorien von Professor Hans Mayer und Kantorowicz beschäftigen konnte, begann diese Auffassung zu zerbrechen. Aufgrund meiner neuen Haltung, die ich zur Betonierung der Grenzsicherungen erlangte, mußte ich dann 1965 mein Fernstudium und meine Tätigkeit als Lehramtsanwärter in Leuna aufgeben. Ich durfte nicht mehr unterrichten.

Aber eigentlich wurde mir erst bis zum Jahre 1968 klar, daß die Mauer weniger ein Schutz nach außen war als vielmehr eine der gefährlichsten Repressiv-Einrichtungen gegen die Bevölkerung.

Daß die Freizügigkeit des Reisens, die freie Wahl der Wohnung und des Aufenthaltes unterdrückt wurden, ist eins der flagrantesten Beispiele von menschenverachtender Freiheitsberaubung gewesen. Viel schlimmer aber ist, daß Millionen Menschen in der Entwicklung ihrer Persönlichkeit behindert wurden. Viel schlimmer ist, daß sich eine Parteibürokratie in den Machtetagen des Staates so etablieren konnte, daß eigentlich allen Bürgern, ob sie das heute schon erkennen oder noch nicht, die demokratische und freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit versagt wurde.

Wie groß der Schaden ist, den der Mauerbau der europäischen Entwicklung zugefügt hat, läßt sich heute noch gar nicht abschätzen.

Die Mauer ist das symbolträchtigste Bauwerk und Zeichen für die noch lange anhaltende Mölglichkeit, den Begriff des demokratischen Sozialismus zu diskreditieren. Und einige hundert Menschenleben werden uns noch lange veranlassen, nach Schuld und Verantwortung zu fragen.

Doch klagen wir nicht nur an Mauern, sondern verhindern wir für alle Zeit, daß sie zwischen Menschen aufgerichtet werden können.

Ibrahim Böhme

Der Autor ist Mitbegründer der Ost-SPD und Mitglied der Volkskammerfraktion dieser Partei.

Der Kommentar von Ibrahim Böhme erschien am Wochenende in der PDS-Zeitung 'Neues Deutschland‘.

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