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Grünes Herz Deutschlands vor dem Infarkt

■ Das zukünftige Bundesland Thüringen wird von hessischen und bayerischen Firmen okkupiert / Die Parteien warten mittellos auf die deutsche Einheit und die Landtagswahlen / Eine „vergessene Region“ vor dem ökologischen Kollaps

Von Klaus-Peter Klingelschmitt

Erfurt/Jena/Suhl (taz) - In der Gaststätte „Gastmahl des Meeres“ im Zentrum von Erfurt stehen sich die bekittelten Kellnerinnen die Beine in den Bauch. Nur ein paar Rentner löffeln stumm eine Linsensuppe, die hier für nur eine harte Mark unfreundlich serviert wird. Dagegen tummelt sich draußen auf dem Anger das Volk, das auch in Thüringen im November 1989 gewaltlos revoltiert und das alte System auf den Müllhaufen der Geschichte verbannt hat.

Wohlstandsmüll und Goldgräbermentalität

„Imbiß“ heißt das neue Zauberwort - und tatsächlich brutzelt da eine postzonale Pommesgeneration im heißen Fett der Freiheit. Hunderte von Fastfood-Buden und Imbißwagen zeigen in der City der altehrwürdigen Stadt Flagge. Da flattern die „Coke„- und „Sprite„-Fahnen lustig im warmen Augustwind, „Bit“ vom Faß gibt's an jeder Ecke, und „American Icecream“ ist der Hit der nachrevolutionären Sommersaison. Nicht nur die berühmte Thüringer Bratwurst bleibt da auf der Strecke. Auch die Landwirte aus einer LPG im Norden des Bezirks bleiben auf ihren Ackerkartoffeln sitzen. Und das gleichfalls in die Stadt gekommene Kollektiv aus der Großbäckerei bietet Tortenböden und süße Teilchen wie Sauerbier an - zu Schleuderpreisen. Die Menschen in der noch realexistierenden DDR wollen lieber „Heiße Hexen“, Hamburger und eben diese neuen goldgelben Fritten essen, die im Morgengrauen zentnerweise aus dem Westen herangekarrt werden: „The west is the best“ - und längst hat auch die bunte Blechdosenkultur die langweilige Monokultur der abgewetzten VEB-Pfandflaschen abgelöst. Falls das Müllaufkommen eines Landes tatsächlich ein Gradmesser für den gesellschaftlichen Wohlstand ist, dürfte die DDR zu den Aufsteigern des Jahres zählen.

Blechmüll liegt auch an der Hitlerschen Rollbahn gen Osten. Zwischen Eisenach und Erfurt läßt die Volkspolizei die ausgebrannten Autowracks einfach am Straßenrand stehen - als Mahnmale für all die Expiloten des Trabant, die auf die schnellen Westwagen umgestiegen sind und die jetzt mit 150 Stundenkilometern über die Betonplatten und Schlaglöcher brettern. Es wird gerast, was die Motoren hergeben, denn freie Bürger beanspruchen freie Fahrt, auch und gerade in der Provinz. „Man gönnt sich ja sonst nichts!“ ist ein beliebter Autoaufkleber an Westwagen mit DDR -Nummernschildern in Thüringen.

„Goldgräbermentalität“ habe sich denn auch im einst verschlafenen Thüringen breitgemacht, meint der Landesgeschäftsführer der Sozialdemokratischen Partei, Frank Ritter. Doch die „Prospektoren“ kämen alle aus dem Westen „und die DDR-Betriebe kollabieren reihenweise“ (Ritter). In der Tat: Ob Straßenbau oder Stadtsanierung, ob Lebensmittelversorgung oder Immobilienbewirtschaftung - den Reibach machen die „Bundies“, die in Scharen über Herleshausen oder über andere hessische oder bayerische Grenzübergänge in Thüringen einfallen. Selbst die mit der Sanierung der maroden Städte beauftragten Handwerksbetriebe kommen zu zwei Dritteln aus dem Westen. Und so fließen etwa die 50 Millionen DM der hessischen „Thüringenhilfe“ umgehend wieder in die Kassen bundesdeutscher Fachbetriebe zurück.

„Wir sind am Ende“, faßt der Sozialdemokrat Ritter die Lage ohne Aufgeregtheit zusammen. Machtlos stünden die PolitikerInnen in den Rathäusern und Bezirksämtern dem Treiben der „Westler“ gegenüber, denn es fehlt an politischen Steuerungsinstrumenten und vor allem an Geld. So stehen alleine in Erfurt zwanzig dringend benötigte Neubauwohnungen leer, weil die Kommune den Bauunternehmer nicht bezahlen kann. Ritter: „Die Städte sind total verschuldet, und der öffentliche Nahverkehr ist am Zusammenbrechen.“ Und deshalb sei Bundeskanzler Kohl ein „elender Lügner“, wenn er weiter behaupte, daß die Vereinigung die Bundesdeutschen kein Geld koste: „Dieses Land kann nur mit Geld aus dem Westen wieder aufgebaut werden. Wer etwas anderes sagt, der sagt die Unwahrheit.“

„Die SPD hat nichts

zu verlieren“

Vor den Landtagswahlen in Thüringen setzen die Sozialdemokraten denn auch darauf, „daß immer mehr Bürgerinnen und Bürger der DDR merken, daß sie von der CDU gelinkt wurden“. Dem gegenwärtigen Konsumrausch prophezeit Ritter ein rasches Ende. Schon heute würden die Arbeitslosenzahlen sprunghaft ansteigen. Und wenn erst die Konten leergeräumt seien, stünden die Menschen vor dem Ruin. Das Rezept, mit dem die SPD in Thürigen die drohende ökonomische und soziale Katastrophe in Thüringen abwenden will, heißt „Wirtschaftsprotektionismus“. Nach den Landtagswahlen am 14.Oktober müsse im Rahmen einer Übergangsregelung dafür gesorgt werden, daß die auf dem Gebiet der DDR arbeitenden Betriebe bei der Auftragsvergabe bevorzugt werden. Darüber hinaus sei die Entschuldung der Betriebe und der Kommunen dann das „Gebot der Stunde“. Viel zu verlieren hat die SPD bei den Landtagswahlen nicht, denn die Partei kam bei den Volkskammerwahlen in Thüringen nur auf magere 17 Prozent der Stimmen. Als Spitzenkandidat soll der nordrhein-westfälische Landespolitiker Friedhelm Fahrtmann die Genossen in den Bezirken Erfurt, Gera und Suhl aus der Talsohle herausführen. Der Mann habe schließlich „ökonomischen Sachverstand“ - und gerade daran mangele es allen PolitikerInnen in der DDR. Fahrtmann soll die Partei dann auch in die große Koalition mit der CDU führen, denn nur eine solche Elefantenkoalition sei in der Lage, die gewaltigen Aufgaben der Zukunft zu bewältigen.

Die neuen unverbrauchten Grünen

Die Frage, ob sich im Rahmen einer solchen Koalition dann noch der von der SPD gewollte „Wirtschaftsprotektionismus“ wird durchsetzen lassen, ließ Ritter unbeantwortet. Noch sei das Landesprogramm der Sozialdemokraten noch nicht einmal schriftlich fixiert - und der schon vor Wochen bestellte Telefax sei auch noch nicht da.

Das wichtigste Problem der Grünen in Thüringen war am vergangenen Mittwoch abend der alte Trabi des Landesvorstandes (LaVo). Der sprang nämlich in Jena erst nach mehreren Streicheleinheiten und einem kräftigen Hammerschlag auf den Motor an - und brachte dann den halben LaVo zum Vorbereitungsgespräch für die Landesversammlung nach Erfurt. In Thüringen jedenfalls begrüßen die Grünen den Vereinigungsbeschluß der „Bundies“, auch wenn sich viele in der westlichen Schwesterpartei Illusionen über den Zustand der Bürgerbewegungen im Osten machen würden, meint LaVo -Mitglied Olaf Möller (28). Die seien nämlich politisch eher dem rechten Flügel der SPD zuzurechnen und deshalb unberechenbar. Dennoch sei die Vereinigung der Grünen in Ost und West mit den Bürgerbewegungen, „vor allem mit dem Neuen Forum“ (Möller), die einzige Chance, bundesweit und auch bei den Landtagswahlen die Fünf-Prozent-Hürde zu überspringen. In den letzten Wochen haben die fleißigen Ökopaxe überall Kreisverbände gegründet, um bei den Landtagswahlen flächendeckend präsent sein zu können. „Wir würden es in Thüringen vielleicht auch alleine schaffen“, erklärt Möller. Zum Wahlkampf gegen die Bürgerbewegungen habe man keine Lust, da das „widersinnig“ wäre. Rund 500 eingeschriebene Mitglieder haben die Grünen in Thüringen. Und sie sind stolz darauf, daß sich überwiegend junge Menschen bei ihnen engagieren. Selbstbewußt rechnet Möller den „Bundies“ vor, daß sie „ohne die Vereinigung mit uns Zonies“ ein alternder Haufen hätten bleiben müssen: „Wir sind die neuen unverbrauchten Grünen mit der unerschütterlichen ökologischen Moral, die sich in keine Schublade stecken lassen.“

Kommunalpolitik findet auch in Jena mangels finanzieller Spielräume nicht mehr statt. Dabei steht die unter Ausschluß der SED-PDS regierende Allparteienkoalition im Rathaus gerade in der Glas- und Universitätsstadt vor gigantischen Nahverkehrsproblemen. Die Straßenbahnen fallen fast auseinander, und das gesamte Schienennetz ist nahezu irreparabel verrottet.

Doch am runden Tisch im Rathaus planten CDU/DSU und SPD lieber neue Straßen, als sich um den öffentlichen Verkehr zu kümmern, schimpft das grüne Ratsmitglied Ralph Seide. Dabei liege es doch auf der Hand, daß die extrem tiefen Schlaglöcher und Querrillen auf den Straßen von Jena unbedingt erhalten werden müßten, denn „da sparen wir doch Hunderttausende von Mark für Verkehrsberuhigungsmaßnahmen“ (Seide).

Abgeschmettert wurde auch eine Initiative der Grünen gegen den „Verpackungswahn“, mit der insbesondere die Getränkedosenflut gestoppt werden sollte. „Die machen sich überhaupt keinen Kopf mehr. Alles wartet auf die Vereinigung und die Landtagswahlen“, meint Seide resigniert. Und die wenigen Gelder, die von Berlin oder Hessen nach Thüringen geflossen sind, die seien ohnehin in der zukünftigen Landeshauptstadt Erfurt hängengeblieben.

Um der „Westwarenschwemme“ etwas entgegensetzten zu können, haben die Grünen beschlossen, wenn möglich nur Waren aus DDR -Produktion zu kaufen. Der Trabi des LaVo wurde vorgefahren, und die Grünen hoppelten gutgelaunt über die „natürlichen Schweller“ nach Erfurt. Im „grünen Herzen Deutschlands“ (ThüringenWerbung) seien die Grünen ein Projekt mit Zukunft, gerade weil das „grüne Herz“ vor dem Infarkt stehe.

Der ökologische Infarkt droht dem „grünen Herzen“ vor allem auch deshalb, weil der Sauerstofflieferant Thüringer Wald zu den am schwersten geschädigten Waldregionen Europas zählt. Mehr als die Hälfte der Bäume gilt auch nach offiziellen Statistiken als „tot“. Der Restbestand ist schwer angeschlagen - so wie die Bevölkerung im Regierungsbezirk Suhl, der zu den gottverlassenen Territorien der DDR zählt. In den letzten vierzig Jahren sei kaum eine Blechmark in den südlichen Thüringer Wald geflossen, meinte der Sozialdemokrat Ritter sarkastisch, weil offenbar die schweren LKW sowjetischer Bauart die Steigungen an der Wegscheide bei Oberhof nicht bewältigen konnten: „Skandal -Kommunismus.“

„Entwicklungsland“ nennen auch die Grünen die Region mit den alten Reichsstädten Meinigen und Schmalkalden. Um Solidarität zu demonstrieren, haben sie ihren Landesparteitag demonstrativ nach Meinigen einberufen, denn in der „neuen Zeit“ dürfe es keine vergessenen Regionen mehr geben.

„Vergessene Region“ südliches Thüringen? Aber nicht doch: „Würzburger Hofbräu“ fließt schon aus den Zapfhähnen der Ex-HO-Gaststätten, westdeutsche Firmen bauen Straßen und Hotels, Opel- und VW-Fahnen knattern im steifen Mittelgebirgswind - und auf fast jedem Parkplatz steht ein rauchender Imbißwagen.

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